Es liegt ein Murks über der Stadt

Bald sind Wahlen in Berlin: „Bild“ betreibt investigativen Journalismus in Sachen Plakatwerbung, die Grünen lassen den Posten ihres Fraktionssprechers vom Feind übernehmen. Und die FDP? Setzt auf verschleierte Dialoge

Alle Parteien – SPD, Grüne, CDU und WASG – werben in Kreuzberg fast nur mit den Konterfeis ihrer Kandidaten

Groß war die Überraschung, als ich am 1. August morgens vor meiner Haustür in Kreuzberg ein Exemplar der aktuellen Bild-Zeitung fand. Tags zuvor hatte ich noch im BILDblog gelesen, dass spätestens im Jahr 2026 die letzte Ausgabe gedruckt würde, wenn die Auflage im selben Tempo wie in den letzten sechs Jahren sinke. Unauffällig war über dem Bild-Logo ein kleiner Sticker angebracht: „Kostenlose Leseprobe, mit freundlicher Unterstützung von Nuon“. Was Nuon ist, erfuhr ich später im Internet: ein Strom- und Gasunternehmen, das jetzt auch im Berliner Raum auf Kundenfang geht. In einem Internetforum wird das Unternehmen von 140 Kunden bewertet: ausschließlich mit einem Punkt „superschlechter Service, nie erreichbar, teuer“ oder mit fünf Punkten „ganz super, sehr guter Service, moderate Preise“. Vermutlich ist ein Teil des Servicepersonals damit beschäftigt, Fünf-Sterne-Wertungen zu posten und deshalb nie erreichbar. Die Konkurrenz sendet derweil gemeinsam mit frustrierten Kunden unentwegt Ein-Punkt-Wertungen.

Jedenfalls schlug ich die kostenlose Leseprobe auf und entdeckte ein Beispiel wirklich investigativen Journalismus. Hildegard Bruns fragt: Warum findet die Berliner CDU keine echten Arbeiter? Tatsächlich hat die Autorin recherchiert, dass die Arbeiter auf den Wahlplakaten der CDU keine sind. Auf einer Baustelle stehen, die Köpfe unter Schutzhelmen gesichert, eine Sekretärin, ein Verlagsmitarbeiter und ein pensionierter Polizist.

Ganz neu ist das nicht. In ihrer Kampagne gegen die Partnerschaftsgesetze vor vier Jahren hatte die CDU – übrigens erstmals in ihrer Geschichte – Homosexuelle abgebildet. Unter dem Satz: „Toleranz ja. Ehe nein!“ tauchten die verdunkelten Silhouetten zweier Männer auf, die sich frontal gegenüberstanden. Die Models wussten seinerzeit nichts über die weitere Verwertung dieses Fotos. Ja, sie waren vorher nicht einmal gefragt worden, ob sie überhaupt schwul, bi oder heterosexuell, sprich: geeignet für das Motiv sind. Kurze Zeit darauf wurde Ole von Beust durch Koalitionspartner Schill zwangsgeoutet und damit zum prominentesten Homosexuellen der CDU. Seitdem müssen Homosexuelle auf CDU-Plakaten immerhin nicht mehr generell abgedunkelt werden. Bei der SPD dagegen stimmen die Berufe auf den Wahlplakaten. Der Student und der Taxifahrer sind echt, stellt Frau Bruns fest. Doch was sie nicht sieht: In Kreuzberg läuft alles anders. Hier ist die Arbeitslosigkeit extrem hoch, Berufe machen keinen Sinn mehr. Deshalb gibt es nur noch Köpfe zu sehen: Alle Parteien – SPD, Grüne, CDU und WASG – werben in Kreuzberg fast ausschließlich mit den Konterfeis ihrer Kandidaten. Die Plakate sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Selbst die Grünen schauen inzwischen genauso wie die anderen. Kein Seyfried, keine Ströbeles in schrillen Warhol-Farben. Und seitdem sie ihren Fraktionssprecher aus der Bild-Redaktion abgeworben haben, gibt Renate Künast plötzlich Statements wie: „Merkel-Murks!“ von sich. Klingt ähnlich wie „Grinsi-Klinsi!“

Einzig die FDP hat ihr altes Kreuzberger Erfolgsmodell – plus sensationelle 1,5 Prozent bei der Bundestagswahl – aus der Schublade gekramt, um neue Wählerschichten zu erschließen: ein Plakat, das eine ernste blonde Frau in strahlendem Licht und Seitenprofil zeigt. Direkt daneben eine Frau frontal mit sinnlich geöffneten Lippen, deren enges Kopftuch die Augenbrauen und den Hals verdeckt. „Mehr Vielfalt“ fordert das Plakat und „Fast forward zu einer toleranten Gesellschaft“. Alles leuchtet in mystischem Weiß, wie auf dem Plakat einer Selbstfindungssekte.

Das wäre nun die nächste Bewährungsprobe für investigativen Journalismus: Wer sind diese beiden Frauen überhaupt? Sind es wirklich eine Christin und eine Muslima? Oder nur verkleidete Models, christliche, muslimische oder gar atheistische aus einer Foto-Agentur? Warum kandidieren sie nicht und präsentieren stolz ihre Namen im Reigen all der anderen Köpfe? Existieren die beiden überhaupt? Und: Wird es Bild bald täglich umsonst in Kreuzberg geben? Gesponsert von einem Energiekonzern oder gar von den Grünen?WOLFGANG MÜLLER