: Alle Klamotten runter und durch
Spencer Tunick in Düsseldorf: Im Morgengrauen trafen sich über 800 nackte Freiwillige zum Freiluft-Shooting und riskierten sogar getötet zu werden
VON PETER ORTMANN
Ein nacktes Kunstwerk zu sein ist unerotisch. Viele, die gestern im Morgengrauen an Spencer Tunicks Fotoshooting in Düsseldorf teilgenommen haben, werden diese Erfahrung gemacht haben. Wie eine Herde steuert der 39-jährige amerikanische Künstler seine Skulpturen aus Fleisch und Blut vor das Museum Kunstpalast. Schichtet sie zu einer Pyramide übereinander. Krümmt sie mit dem Kopf nach unten. Bespritzt sie mit Wasser aus einer Fontäne. „Please don‘t move, please don‘t move“, schallt es laut aus einem der krächzenden Megaphone – die Ersten wollen schnell wieder aus der feuchten Kälte. Tunick wird leicht hektisch, fürchtet vielleicht um das beste Foto. „Nice shooting, don‘t smile, don‘t move, for only three minutes, please“. „Ich kriege einen Krampf“, murmelt die junge Frau neben mir.
Als zusammengepferchte Readymades haben es die rund 800 nackten Freiwilligen nämlich nicht leicht. Kleinere Dauer-Verrenkungen hemmen die Freude, irgendwie ist jeder notgedrungen fixiert auf seine private soziale Plastik im Beuyschen Sinne. „Bitte verdecken sie die Aluschiene vor ihnen, mit Hintern, Armen, egal womit“ ruft laut der Film- und Foto-Regisseur. Nur müde matt brandet hier und da männliches Gelächter auf. Inzwischen sind schließlich schon ein paar Stunden unter freiem Himmel vergangen. Die Aktion hat bereits zu nachtschlafender Zeit begonnen – und dazu noch ziemlich unspektakulär: Erst am Klapptisch das Standard-Formular fürs Naked Pavement ausfüllen. Der wohl von amerikanischen Schadensersatz-Verhältnissen geprägte Fotograf sichert sich darin sogar für den Fall einer fahrlässigen Tötung ab. Kunstwerk sein ist also auch noch gefährlich. Also erst einmal das Morgengrauen im Halbschlaf absitzen auf dem eingezäunten, feuchten Rasen. Dann einen heißen Kaffee. Doch den gibt es unverschämter Weise nur vom Düsseldorfer Gourmet-Team an der Ecke gegen Euros. Aber woher nehmen, wenn man doch splitterfasernackt sein soll?
Langsam wird es heller. Erste Anweisungen dröhnen zweisprachig aus dem Megaphon. Die Dolmetscher rufen zuerst nach Damen und Herren mit gelbem Slip. Einige melden sich zaghaft. Dann breitet sich allgemeine Heiterkeit aus. Gemeint war nämlich nicht die farbige Unterwäsche, sondern der sonnige Karton, der die erste Pyramiden-Gruppe kennzeichnet. Peinlich, peinlich. „Ihr seid heute alle Künstler“, ruft schnell Spencer Tunick über die Menge. Das ist in Düsseldorf unweit der Kunstakademie natürlich nix Neues. „Thank you, thank you so much, it will be crazy“. Unsere Körper würden bald einen „wunderbaren Anblick abgeben“. Der freut natürlich auch die zahlreichen Fernseh-Kamerateams hinter der mickrigen Plastik-Absperrung, die natürlich mehr am FKK-Spektakel, denn an Kunst interessiert sind und gerade wie wild ein paar knackige Burschen abfilmen, die mit Bierflasche bewaffnet schon vor dem Massen-Shooting ihren großen Auftritt bekommen und dafür auch noch dämliche Fragen beantworten.
Dann geht es endlich los und es kommt der einzige sensible Moment des ganzen Morgens: Ganz ohne Körperkontakt wird es plötzlich wohlig warm in der zur Plattform strömenden Menge aus unbekleideten Körpern. Eine interessante Erfahrung. Der Rest ist schnörkellose Arbeit. Jobben für die Kunst. Kurz frieren für das handsignierte Fotohonorar. Spencer Tunick arbeitet nämlich ziemlich schnell und machte wahrscheinlich weniger Fotos als die wild mitblitzenden Presse-Fotografen.
Seit 1992 fotografiert der in New York City lebende Künstler schon nackte Menschen in der Öffentlichkeit. Anfangs noch als spontane Aktion, immer auf der Flucht vor den heranbrausenden Motorad-Polizisten und natürlich gebrandmarkt von der prüden US-Öffentlichkeit, sind seine Foto-Arbeiten heute längst weltweit museumsreif. Und selbst der Washingtoner Supreme Court hat dem Fotografen längst hochrichterlich bescheinigt, dass der nackte menschliche Körper auch in den USA durchaus ein Kunstobjekt sein könne. Dadurch wurden die fotogenen Massen immer größer. Zu Tausenden strömten die Menschen bereits in Helsinki, Melbourne, Sao Paulo oder Barcelona zusammen. In Deutschland arbeitet Spencer Tunick allerdings zum ersten Mal und stellt die Ergebnisse gleich aus. Im nächsten Monat hängen dazu seine weltweiten Arbeiten im Rahmen der Düsseldorfer Quadriennale 06 im musealen Kunstpalast.
Doch zurück auf die lange schmale Innenraum-Wiese gleich neben dem Rhein. Neues Set. Neues Foto. Neue Optik. Schließlich sind die meisten eh noch unbekleidet, nur ein paar Raucher fehlen. Doch für das Kreuz aus nackten Leibern benötigt Tunick sowieso nicht Alle. Die Strecke ist nicht lang genug. Die Auserwählten liegen nebeneinander mit dem Rücken auf dem nassen Gras, mit dem Kopf auf dem staubigen Ascheweg. Im Hintergrund die leuchtende Kuppel der städtischen Tonhalle. Aber die Anspannung wird größer. Denn zwischen dem Gras an einer Ecke stehen wilde Disteln und gegenüber bereits die ersten Schaulustigen. Jetzt schmerzt das blanke Hinterteil – natürlich nur für die Kunst. „Don‘t smile, don‘t move, don‘t look in the camera“. Tunick lässt seine Kameras klackern. „Danke, dass ich mein Gebiss drin behalten darf“. Auch die älteren Herrschaften im Staub haben ihren Humor längst noch nicht verloren.
30.09 bis 12.11. 2006Museum Kunstpalast, Düsseldorf