Atomdebatte bestimmt Wahlkampf

Experte fordert Verstaatlichung der schwedischen Atomindustrie. Grüne und Linke wollen Ausstieg forcieren

STOCKHOLM taz ■ Den SchwedInnen wirft man eine fast krankhafte Sicherheitsmanie vor – gerade bei der Nutzung riskanter Technologien. Deshalb kam der Beinahe-GAU des Forsmarker Atomkraftwerks für sie wie ein Schock. Und den verstärkte der ehemalige Forsmark-Konstruktionschef Lars-Olov Höglund jetzt noch. Am Wochenende erklärte er, Sicherheitsdenken sei bei den Verantwortlichen seit der Liberalisierung des schwedischen Strommarkts vor zehn Jahren in den Hintergrund getreten. Konkret wirft Höglund den Atomkonzernen Vattenfall und Co. vor, nicht nur ihre Sicherheitsabteilungen sträflich ausgedünnt, sondern auch „Betriebspersonal ohne tiefere Einsicht in technische Zusammenhänge“ eingestellt zu haben.

Höglund könnte sich damit zum Hauptfeind der schwedischen Atomwirtschaft machen. Hatte er doch den Betreiberfirmen und Aufsichtsbehörden schon nach dem Black-out des Forsmark-Reaktors einen Strich durch die Rechnung gemacht: Als sie versuchten, den Störfall zu bagatellisieren, hatte er publik gemacht, dass das Land nur knapp einer Atomkatastrophe entgangen sei.

Nun wirft er der staatlichen Atomaufsicht SKI vor, sich bei Problemen auf die Sicherheitsarbeit von Kraftwerkbetreibern und deren Unterlieferanten zu verlassen. Diese jedoch dächten vor allem in Profitkategorien: In dieser Logik schlägt sich jede Stunde Reaktor-Auszeit als Verlust in der Bilanz nieder. So würden notwendige Wartungsarbeiten während der Betriebszeit vorgenommen, auch wenn die Sicherheitssysteme dazu vorschriftswidrig abgeschaltet werden müssten. Die letzten Milliardeninvestitionen in die 30 Jahre alten und technisch überholten Reaktoren seien „ein Pfusch, den kein Kunde in der Auto-, Flugzeug- oder Computerbranche akzeptieren“ würde, sagte Höglund. Auch einem Terrorangriff könnten die nur mit Drahtzäunen und unbewaffneten Sicherheitswächtern geschützten AKW kaum widerstehen. Diese Risiken seien nicht akzeptabel.

Ein Ausstieg aus der Atomkraft wäre jedoch nur auf gesetzlichem Weg und mit deftigen Schadenersatzleistungen an die Betreiberfirmen möglich. Deshalb schlägt Höglund vor, die Reaktoren direkt zu verstaatlichen. So könne die Sicherheit besser kontrolliert und der Atomausstieg zentral durch Staat und Gesellschaft gesteuert werden.

Da in Schweden am 17. September Parlamentswahlen anstehen, dürfte Atomkraft nun eines der beherrschenden Wahlkampfthemen werden. Schon früher haben die SchwedInnen bewiesen, wie wichtig diese Frage für sie ist. 1980 stimmten sie unter dem Eindruck des Unfalls im US-AKW Harrisburg in einer Volksabstimmung mehrheitlich für einen Atomausstieg bis 2010. Dass seither erst zwei der zwölf Reaktoren abgeschaltet wurden, ist vorwiegend dem Mythos der angeblich sicheren schwedischen AKW zu verdanken, auf den vor allem die Sozialdemokraten immer gebaut haben.

Der ist nun mächtig angekratzt. Und neben den Grünen hat mit der Linkspartei auch die zweite Partei, die Schwedens sozialdemokratische Regierung für eine Parlamentsmehrheit braucht, das Atomthema wiederentdeckt. Beide fordern, dass in der kommenden Legislaturperiode mindestens ein weiterer Reaktor abgeschaltet wird. Zugleich soll ein detaillierter Ausstiegsplan erarbeitet werden, der Investitionen in alternative Energieproduktion beinhaltet.

REINHARD WOLFF