piwik no script img

Archiv-Artikel

Fukushima: Häufig Schilddrüsenkrebs

ATOM Nach dem Reaktorunfall im März 2011 sind bisher 74 Kinder in der Region positiv getestet worden. Ärztevereinigung IPPNW kritisiert „systematische Verharmlosung“ der Gesundheitsgefahren

BERLIN taz | In der Region um Fukushima sind bisher 33 an Schilddrüsenkrebs erkrankte Kinder operiert worden. Auf weitere 41 Kinder, die eine „positive“ Gewebeprobe aufweisen, wartet ebenfalls eine Krebsoperation. Diese Zahlen nannte am Montag die Ärztevereinigung IPPNW (Ärzte gegen Atomkrieg). Die Erkrankungsrate bei Schilddrüsenkarzinomen sei damit von 0,35 je 100.000 Kinder vor der Reaktorkatastrophe vom März 2011 auf 13,0 angestiegen, sagte Alex Rosen, Vizevorsitzender der deutschen IPPNW-Sektion.

Bis Dezember 2013 hatten japanische Ärzte 269.354 Kinder und Jugendliche auf Schilddrüsenkrebs untersucht. Bei 47 Prozent seien Veränderungen wie Knoten und Zysten an der Schilddrüse diagnostiziert worden, die zwar nicht bösartig seien, aber im schlimmsten Fall entarten könnten, sagte Rosen. IPPNW erwartet, dass die Zahl der Schilddrüsenkarzinome, ähnlich wie nach Tschernobyl, „in den nächsten Jahren stark steigen wird“. Die Schilddrüse reagiert besonders empfindlich auf radioaktive Strahlung. Die Eltern der betroffenen Kinder, kritisierte Rosen, hätten keine Untersuchungsbefunde ausgehändigt bekommen. Auch das Einholen einer zweiten Arztmeinung sei ihnen verwehrt worden. Die Ärztevereinigung wirft dem Staat eine Geheimhaltungspolitik vor.

Kritisch sieht die Ärztevereinigung auch die Überwachung der radioaktiven Strahlung. Der Umweltjournalist Alexander Neureuter, dessen Buch „Fukushima 360 Grad – das atomgespaltene Leben“ in Kooperation mit IPPNW erschienen ist, berichtet von systematischen Fehlern bei der Strahlenmessung. In Parks und an öffentlichen Gebäuden seien zwar 3.200 Messgeräte installiert. Bei 80 Vergleichstests mit besseren, exakt kalibrierten Geräten seien die offiziellen Werte aber regelmäßig 30 bis 50 Prozent geringer ausgefallen. Neureuter: „Das Umweltministerium hat inzwischen einen Konstruktionsfehler seiner Geräte eingeräumt.“ Offenbar seien sie mit Bleiakkus ausgerüstet – und Blei könne radioaktive Strahlung bekanntlich wirksam abschirmen. Wegen der Messfehler werde die Belastung der Bevölkerung systematisch unterschätzt.

Die Strahlung in der Region wird außerdem mit Dosimetern gemessen, die Kinder um den Hals hängen haben. Sie würden die Kinder aber nicht vor starken Strahlenquellen warnen, sondern würden über einen langen Zeitraum nur messen, sagte Rosen. Datensammlung statt Schutz – das erinnere an Menschenversuche. MANFRED KRIENER