: „Tellerrand Dormagen“
Vom Bob Dylan der Südstadt zum musizierenden Medienstar: Der bildende Künstler und Chef von BAP, Wolfgang Niedecken, über 60 Jahre Nordrhein-Westfalen
INTERVIEW PETER ORTMANN
NRW ist das größte Bundesland in Deutschland. Sind 18 Millionen Einwohner zu viel für eine Gemeinschaft?
Wolfgang Niedecken: Eigentlich wissen wir oft nur aus den Medien etwas übereinander. Bis auf die ersten fünf Jahre habe ich die 60 Jahre NRW erlebt. Wenn ich mich zurück erinnere an die 1970er Jahre als Kunststudent, was das für mich bedeutete, als ich eine Ausstellung hatte, das war damals unglaublich. Oder als wir mit der Band zum ersten Mal in Wuppertal gespielt haben, obwohl das ja nur ein paar Meter sind. Mein Vater, Jahrgang 1904, ist als Jüngster einer Winzer- und Bauernfamilie aus Unkel am Rhein nach Köln ausgewandert. Das muss ein Kulturschock gewesen sein.
Gibt es ein NRW-Lebensgefühl?
Nein, das ist total aufgehoben. Die globalisierte Welt unterscheidet nicht mehr zwischen Rheinland, Westfalen oder Lipperland. Die Globalisierung schlägt überall zu. Alle Menschen müssen in den Metropolen zurecht kommen. Der Strukturwandel in NRW hat Probleme gebracht, die immer noch nicht gelöst sind.
Köln ist die größte Stadt. Was interessiert da noch der Rest von NRW?
Als Kölner hat man auf unserer Rheinseite eigentlich in Richtung Norden hinter Dormagen den Tellerrand erreicht. Ab da fängt irgendwie etwas anderes an. Was da passiert, kriegt man als Kölner nicht mehr mit. Etwas besser ist es Richtung Aachen und in Richtung Süden. Der Norden bleibt problematisch.
Testen wir mal: Was ist zum Beispiel Pfefferpotthast?
So ein Gericht, oder?
Richtig. Aus Westfalen. Dort wird kaum noch Platt gesprochen. Kölner Mundart hat noch einen Stellenwert.
Auch das Kölsche wird verschwinden. Die Dialekte sind alle im Verschwinden begriffen. Selbst diese ungezählten Bands, die inzwischen im Karneval gelandet sind, singen größtenteils hochdeutsch. Weil Dialekte nicht mehr gesprochen werden. Niemand geht morgens mehr los und kauft in Mundart seine Brötchen oder geht zum Schuster, der seinen Dialekt spricht. Abends sitzt er zu Hause vor dem Fernseher und zappt durch 50 hochdeutsche Kanäle. Wo zum Teufel soll Dialekt weiterleben. In Köln haben wir durch den Karneval vielleicht noch etwas mehr Selbstverständnis. Doch auch der wird immer hochdeutscher. Das Ende ist abzusehen. Ich habe vier Kinder von zwei verschiedenen Müttern, wenn ich kölsch fluche, verstehen die mich noch, ich kann nämlich nicht Hochdeutsch fluchen. Die vier haben zwar einen rheinischen Tonfall, sprechen aber kein Kölsch.
Ist Köln noch eine Kunstmetropole?
Köln war mal eine Kunstmetropole. Allerdings haben wir noch sehr viel Baudenkmäler und Kulturschätze hier, worum uns andere Städte beneiden. In Köln wird kurzsichtigerweise immer der Dom abgefeiert. Was Malerei und moderne Kunst angeht, lag man mal sehr weit vorn, da ist ein bischen geschlafen worden. Vielleicht hätte man so Biotope wie das Stollwerk mal einfach in Ruhe und Kultur wuchern lassen sollen. Da passierte einmal sehr viel. Doch man hat sich leider entschlossen, alles schön touristen-attraktiv rund um den Dom zu platzieren.
Ist gesponserte Kultur noch frei?
Wir haben es mit BAP wunderbar getroffen. Unser Tourmanager lässt uns komplett in Ruhe. Wenn man sich mit Radio- oder Fernsehsendern einlässt, kann das natürlich eher passieren. Die würden keine politische Band sponsern, weil sie dann mit den Konzernen – aus dem Energiesektor – aneinander geraten. Aber wir müssen mit Sponsoring leben, weil die Kulturinstitutionen der Städte oder des Landes dies nicht mehr wahrnehmen können. Je aggressiver die Sponsoren sind, als Band steht man da vor so einem Logo-Friedhof, desto weniger hat das mit Identifikation zu tun.
Vom Bob Dylan der Südstadt zum Medienstar – ist in den Jahren deine Verantwortung gewachsen?
Die Zeit, in der ich auf mich selbst reingefallen bin, ist vorbei. Ich dachte Anfang der 80er, jetzt hast du so ein großes Publikum, irgendwie hast du auch politische Songs geschrieben, eigentlich müsstest du von allem Ahnung haben. Das ist Unfug. Ich könnte kein Interview machen zur Gesundheitsreform.
Und die Haltung gegen Rechts?
Dafür brauche ich nicht auf der Bühne zu stehen. Wir Deutsche haben die Verpflichtung, da Positionen zu beziehen. Wenn ein Neonazi, auf seinem Arm die Plakette hat: Ich bin stolz ein Deutscher zu sein, dann hat der nichts dafür getan, der hat gar keinen Grund darauf stolz zu sein. Ich kann darauf stolz sein, wenn ich mitgeholfen habe zu verhindern, dass die Nazis hier wieder die Oberhand gewinnen. Aber diese Schwarzrotgoldenen Fahnen jetzt, das hat schon satirische Züge. Wenn ich Autos mit den Standarten sehe, denke ich immer, da ist eine Gerhard-Haderer-Karikatur in Bewegung geraten.
Wenn NRW ein Staat wäre, stünde er wirtschaftlich an 15. Stelle in der Welt, vor Russland oder den Niederlanden. Gleichzeitig werden hier Tausende Menschen entlassen. Gibt es eine Differenz zwischen ökonomischer Realität und gefühlter Wirklichkeit?
Da verstehe ich die Unsicherheit der Menschen, die das nicht mehr nachvollziehen können, warum diese gesunden Konzerne Entlassungen durchführen, während in den Städten hohe Arbeitslosigkeit herrscht. Warum sie immer verzichten sollen wegen der Globalisierungsargumentation. Und ich verstehe die Politikverdrossenheit.
30 Jahre BAP ist eine Erfolgsgeschichte, sind das 60 Jahre NRW auch?
Im Gesamt-Zusammenhang bis zum Strukturwandel auf jeden Fall. In dem stecken wir mitten drin. Wie das weiter geht, da bin ich nicht kompetent. Ich fahr mit dem Zug kreuz und quer durch NRW, lieber als mit dem Auto und sehe ehemalige Schwerindustrie-Gebiete und denke, wovon leben die Menschen eigentlich. Ich habe da auch keine Konzept. Das Grundgefühl ist ein ratloses. Das einzige, womit große Sprünge an der Börse gemacht werden, sind Entlassungen. Wir sind in dem Land mittlerweile so weit, dass ich glaube, man will der Börse die soziale Verantwortung überlassen. Doch dann macht irgendwann der letzte das Licht aus.
Das geht bei den ausländischen Mitbürgern schon jetzt langsam aus.
Ich glaube, dass die Menschen bereit sind zur Integration. Heute lebt hier nicht mehr die ersten Gastarbeiter-Generation. Und Köln und das Ruhrgebiet waren immer Schmelztiegel.
Warum ist Integration so schwierig?
Immer wenn es enger wird, fängt das Boulevard an zu hetzen. Ich wünsche mir eine Welt ohne Boulevard. Das wäre wunderbar. Man hätte nicht mehr die ganze Gülle, die Menschen jeden Tag überall lesen. Welche Möglichkeiten es dann gäbe. Wir sind wieder soweit, dass die Menschen rechten und linken Welterklärern nachrennen. Wie beim Karikaturenstreit, wo Kulturen aufeinander klatschen sollten und nicht mehr respektvoll mit den kulturellen Werten anders denkender Menschen umgegangen wurde. Wir haben alle unsere Sozialisation mit der Bibel erhalten, egal wie früh man das abgelegt hat. Ich würde mich doch nie umbringen, weil einer eine Bibel ins Klo gekippt hat. Aber man sollte daran denken, was so etwas für anderen Menschen bedeuten kann und wie respektlos man damit umgeht. Und wenn der Boulevard das gegeneinander klatscht, dann gelingt ihm das auch.