: Zu fern für einen Kuss
Ariane Damerow ist eine ganz besondere Zeitzeugin der Mauer. Schon als Kind fand sie Löcher darin. Das ließ in ihr die Überzeugung reifen, dass die Mauer überwindbar ist. Mit List natürlich – und mit Liebe sowieso
VON WALTRAUD SCHWAB
Ariane Damerow, groß und mit lockigen, dunklen, wallenden Haaren, ist stolz darauf, in einem der verstecktesten Winkel Berlins zu leben: der Oberen Koloniestraße in Wedding. Sie tut es in vierter Generation. Schon ihre Urgroßmutter wohnte in dem von allen Seiten abgeschnittenen Wurmfortsatz der eigentlichen Koloniestraße, den alte Berliner noch immer „die Krücke“ nennen. Sie lebte im Haus Nr. 69, Requer hieß sie, hatte hugenottische Vorfahren und zudem eine Dose mit Pfennigstücken im Schrank. Daraus stibitzte Damerow hin und wieder einige, um sich Bonbons zu kaufen.
Ariane Damerow kennt jede Ecke ihrer kleinen, vom Rest der Welt gut abgeschirmten Heimat. Im Süden sind die Schrebergärten, die zum Namen der Straße passen, im Westen ist Industriegebiet, im Osten liegt ein Sportgelände vor dem Ufer der Panke. Fischerdorf und Müllhalde waren einst dort, wo heute die paar Mietshäuser stehen. Im Norden schließlich bildet die S-Bahn eine natürliche Barriere. Zu Mauerzeiten war sie Staatsgrenze.
Hier, in diesem abgeschotteten Kiez, in dem jeder jeden kennt, erlebt die 1963 geborene Weddingerin eine unbeschwerte Straßenkindheit. Damerow spielt in Hinterhöfen, prügelt sich im Buddelkasten, verbündet sich gegen die Bande von der anderen Straßenseite, entwickelt Schnauze mit Herz. Als Cowboys und Indianer – „Ich war Indianer, aber nie Squaw“ – werden sie und ihre Kumpels zu Kundschaftern auf unbekanntem Terrain. Sie finden eine Lücke in der Mauer an den S-Bahn-Gleisen, kriechen durch und spielen fortan auf DDR-Niemandsland – bis ihre Mutter es herausbekommt, mit Schrecken, und dafür sorgt, dass das Loch gestopft wird.
„Die Mauer haben wir hingenommen, wie man das Unabänderliche hinnimmt.“ Dennoch wird Damerow auch später in ihrem Leben mit sicherem Instinkt Lücken in ihr finden. „Dass das System in der DDR so besessen war von der Suche nach Feinden, das hat man sich doch nicht vorstellen können. Als Kind nicht und auch nicht als Teenager.“ Sollte sie es dennoch jemals gewusst haben, hat sie es mit großer Unbekümmertheit ignoriert. „Ungerechte Autoritäten sind dazu da, sie in Frage zu stellen.“ So was liegt ihr im Blut. Etliche Damerows sollen früher aufgehängt worden sein deswegen. „Die hatten so ’ne Sozialmacke.“ Ariane Damerow gehört zu jenen Gören, die bei Verwandtenbesuchen in Ostberlin Gutes tun, indem sie die Bravo unterm Pulli einschmuggeln. Ihre Cousins drüben sollen es nicht schlechter haben als sie. „Hätte das mein Stiefvater gewusst, er wäre verrückt geworden vor Angst.“
Neben dem Sozialen scheint sich auch das Hugenottische in ihrer Generation wieder Bahn zu brechen. „Das Französische ist mir und meiner Schwester zugeflogen.“ Als Ariane Damerow in der fünften Klasse als erste Fremdsprache Englisch nehmen muss, heult sie vor Wut und Enttäuschung. Ihre Schwester heiratet später einen Soldaten der französischen Alliierten, was erheblich zu der Bredouille beiträgt, in die Damerow aufgrund der Lücken, die sie noch in der Mauer findet, geraten wird.
Später – das ist in den Achtzigerjahren, als Damerow, Romanistikstudentin, 21 und bereit ist, die Welt zu erobern. Theoretisch zumindest, denn weiter als bis zum S-Bahnhof Friedrichstraße kommt sie vorerst nicht. Obwohl der in Ostberlin liegt, können Westberliner dort auf den speziell für sie reservierten Bahnsteigen umsteigen. Damerow fährt auf dieser Strecke oft, wenngleich die Atmosphäre etwas von einer Reise ins Innere der Erde hat. Hier werden die Passanten nicht transportiert, sondern verschlungen. Bei einem ihrer Ausflüge auf den Bahnhof wird Ariane Damerow in diesem Schlund, der durch politisches Misstrauen gespeist wird, vom Blitz getroffen. Er blendet sie und wandert von den Augen direkt in ihr Herz. „Liebe auf den ersten Blick“ heißt die Naturgewalt, der sie erliegt.
Eine Augeneroberung – Damerow macht eine Augeneroberung! Ihr Gegenüber ist Unteroffizier der Grenztruppen bei der Nationalen Volksarmee. Er überwacht den Bahnhof. Wer ihn anspricht, erhält die Antwort eines Stummen. Mit solch leeren Händen allerdings zieht die rassig aussehende Westberlinerin – „Sweety“ nennen sie sie später in den Stasi-Akten – nicht von dannen. Schließlich waren es die Augen des Soldaten, die blitzten, ihre blitzen nur zurück.
Die Magie eines solchen Moments will wiederholt sein. Damerow fährt, so oft sie kann, über Friedrichstraße und verknallt sich bis in die letzten Moleküle ihrer leidenschaftlichen Existenz in den DDR-Unteroffizier, der Steffen heißt und dort seinen Wehrdienst ableistet, kein Wort an sie richten darf, auf Schritt und Tritt überwacht wird und zudem stets von zwei Begleitern flankiert ist. Nur Augensprache und Gesten bleiben den beiden. Damerow – im Auskundschaften von Spuren und Informationen geübt – verwendet ihren ganzen Erfindungsreichtum darauf, mit dem Objekt ihrer Begierde zu kommunizieren. So wird sie zur ewig verschnupften Taschentuchverliererin, die mit ihrer rot geschminkten Nase lauthals niest, um die Aufmerksamkeit des Angebeteten auf sich zu lenken. Sie wird zur S-Bahn-Verpasserin und zur Postkartenfetischistin. „Zu fern für einen Kuß“ steht auf einer. Einige von den Postkarten hat sie aufgehoben und kramt sie aus dem gut sortierten Archiv. „Ich stand da und tat so, als lese ich die Karte, während ich ihm die Vorderseite mit den schmachtenden Botschaften hinhielt.“
Den Soldaten kann sie nicht ansprechen, wohl aber den Abfertiger der S-Bahn. Der wiederum hat selbst die Lücke im Überwachungsstaat gesucht und sie in einem toten Winkel auf dem Bahnsteig gefunden, den die Kameras nicht erfassen. Dort lässt sie sich mit ihm auf Gespräche, ja später auch auf einfache Tauschgeschäfte ein, bis sie ihn einweiht und er ihr Dienstpläne, den Namen und sonstige Informationen über den Angebeteten zusteckt, sodass sie ihre täglichen Touren durch das unterirdische Ostberlin besser planen kann. „Kein Weg zur Uni, kein Einkauf, der nicht über Friedrichstraße ging.“ Monatelang geht das so, und sie wechseln kein Wort. Nur Blicke und halb geöffnete Münder und Hand aufs Herz und noch ein Schritt näher ran.
Ihre Westberliner Freunde nehmen die ganze Episode als Spleen einer lebenshungrigen jungen Frau hin. Auf dem Balkon ihres Freundes Martin, dessen Wohnung im hintersten Haus im Wedding, direkt am S-Bahnhof Wollankstraße, liegt und einen besonderen Blick bietet über die Gleise und rüber nach Ostberlin, verbringt sie Nachmittage – sinnierend und Liebesgedichte verfassend: „Sehen kann ich Dich / sogar Dein Lachen wahrnehmen / in Deine Augen schauen.“ Dabei stellt sie nebenbei fest, dass es Leute gibt, die eine Tür zum S-Bahnhof reingehen, aber nie oben auf dem Bahnsteig ankommen. Sie nimmt das wahr, wie man Absonderlichkeiten der ganzen Mauerangelegenheit von Westberlin aus eben wahrnimmt.
Ihre Beobachtungen spielen keine Rolle bis zu jenem Tag, an dem Damerow von Westberliner Polizisten nachts heulend auf einer Brücke aufgegriffen wird. Der Angebetete ist von der Friedrichstraße abgezogen worden, weil seine Wehrpflicht zu Ende geht. Es regnet, es ist dunkel, dennoch suchte sie ihn am Brandenburger Tor, weil er dort seine Abschiedswache halten sollte. Vergeblich war’s. Ihr Herz gebrochen.
Natürlich glauben ihr die Polizisten die Geschichte nicht. Eine Westberlinerin flirtet eineinhalb Jahre lang mit einem NVA-Soldaten auf dem bestens überwachten Bahnhof, ohne dass es auffliegt – wie soll das gehen? Dass Damerow ihnen in diesem Moment zur besseren Glaubwürdigkeit von der geheimnisvollen Tür im S-Bahnhof Wollankstraße erzählt, ist wohl auf ihren emotionalen Zusammenbruch zurückzuführen. Besser wäre es gewesen, sie hätte dieses Detail für sich behalten, denn schon ein paar Tage später meldet sich der Westberliner Staatsschutz zwecks genauerer Eruierung der Hintergründe, handelt es sich hier doch um eine Agentenschleuse. Unversehens ist Damerow auf diese Weise zur Spionin mutiert.
Gut, die Geschichte hätte hier enden können – schließlich riet der Staatsschutz ihr noch, nicht mehr nach Ostberlin zu fahren, da dies für sie von nun an gefährlich werden könne –, hätte ihr Angebeteter nicht überraschend auf einen ihrer Briefe geantwortet. Zweimal versuchen die beiden, sich in Ostberlin zu treffen, und verfehlen sich. Darauf bricht der Kontakt ab, und Ariane Damerow stürzt in große Sorge um sein Schicksal. „Ich meine, die Essenz der politischen Bildung, die wir erfahren haben, gipfelte doch in der Erkenntnis, dass der Westler verpflichtet ist, den Ostler zu retten.“
Damerow verbringt den Sommer auf dem Balkon des Freundes in der Wollankstraße mit Blick über die S-Bahn. Sie fertigt minutiöse Protokolle des bisherigen Geschehens an und merkt dabei, dass der DDR-Grenzposten, der auf dem gegenüberliegenden Wachturm seinen Dienst tut, sie durch seinen Feldstecher anstarrt wie eine göttliche Erscheinung. Irgendwann wird es ihr zu viel, und sie malt ein Schild, auf dem steht: „Pass auf, dass dir nicht die Linse platzt.“
Wieder wäre es besser gewesen, sie hätte das gelassen, denn der Wachsoldat winkt zurück, und sie fängt an, ihm neue Schilder hinzuhalten. Auf einem steht ihre Adresse. Der junge Mann, er heißt Christian und er ist der Einzige in der hier vorgestellten Männerriege, dessen Namen kein Alias ist, lässt sich nicht zweimal bitten. Ein Briefwechsel entsteht, den Damerow aufrechterhält, weil sie die Hoffnung hegt, über ihn an ihren Angebeteten aus der Friedrichstraße zu kommen. Christian, ehrlich entflammt für Damerow, aber von eher einfachem Gemüt, lässt seine auf dem Wachturm verfassten Oden an „die Queen aus Westberlin“ im Spind liegen. Bei der nächsten Spindkontrolle fliegt er auf: Verbotene Feindkontakte hat er aufgenommen. Entweder Knast oder Mitarbeit als Spitzel lautete die Wahl, vor die man ihn stellt. Er soll einen auf Adonis machen, Damerow nach Ostberlin einladen und aushorchen. Christian willigt ein. Später schämt er sich dafür.
Treffen der beiden werden in Ostberlin arrangiert, aber weder kommt Christians Charme bei Damerow an, noch führt er die Gespräche zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten. Das Ganze droht langweilig zu werden für alle Beteiligten, was die Stasi nicht zulassen kann. Sie setzt Thomas Sänger, einen neuen Beau, auf Damerow an. Sie rumkriegen und aushorchen lautet sein Auftrag. Als sie zu einem der Treffen in Ostberlin, wo auf Stasi-Kosten große Sause gemacht wird, ihre beste Freundin Chrissy mitbringt, kommt der Ball endlich ins Rollen. Chrissy nämlich landet am Ende mit Sänger im Bett und plaudert aus, was sie nicht soll: dass ihre Freundin wegen der Agentenschleuse ab und zu Besuch vom Verfassungsschutz bekommt. Endlich ein Knüller. Die Stasi hat es immer schon gewusst: Die Damerow ist Spionin.
Nun wird das Leben der Weddingerin unangenehm. Sie spürt, dass sie beobachtet wird, sie fühlt sich verfolgt, man rät ihr, nicht nach Osteuropa zu reisen, eine Agentin des Verfassungsschutzes sagt ihr sogar, ihr Leben sei in Gefahr. Was Damerow da noch nicht weiß: Auch der russische und der französische Geheimdienst sind interessiert, weil sie durch ihren Schwager Kontakt zu den alliierten Streitkräften hat.
Erst nach der Wende, als die Gauck-Behörde Privatpersonen Einsicht in die Stasi-Unterlagen ermöglicht – ihre hat die Nummer AP7109/89G und umfasst tausend Seiten –, wird auch für Damerow das Ausmaß der Bespitzelung offenbar. Erst jetzt begreift sie, dass sie bei vier Geheimdiensten als mögliche Agentin eines jeweils anderen geführt wurde. Und: Einmal Agentin, immer Agentin, so die Logik der Geheimdienste.
Damerow setzt alles daran, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. In Ruhe gelassen werden möchte sie. Frei sein. Nicht in ominösen Listen auftauchen, in denen sie Spuren hinterlässt, sobald sie auf einem Flughafen, bei einer Fahrt über eine Grenze ihren Pass zeigen muss. Sie war doch nur verliebt in jemanden, der am Ende zu schwach für eine so komplizierte Geschichte war. Damerow besucht alle ehemaligen Ostler, die in ihrer Akten auftauchen, und stellt sie zur Rede. Bis auf Christian zucken sie mit den Schultern.
Und die Ost-West-Liebesgeschichte? Ist im Sand verlaufen. Bald werden sie nur noch Leute verstehen, die die Mauer noch kannten. Damerow hat alles aufgeschrieben für die Nachwelt. Ihr Buch lässt den Kalten Krieg und wie er im Alltag der Berliner ankam, nochmal lebendig werden.
Alltagsweise, wie sie ist, hat sie übrigens auch Wladimir Putin, dem russischen Staats- und Regierungschef, einen Brief geschickt und ihn gebeten, sie aus dem Agentenregister zu streichen, will sie doch nicht – wie üblich – bis zum 75. Lebensjahr gespeichert bleiben. Der russische Inlandsgeheimdienst hat ihr Ende 2003 zurückgeschrieben, dass sie nicht als Agentin geführt werde. „Ha, der Inlandsgeheimdienst“, sie zeigt den Brief und schüttelt den Kopf. „Hauptsache, ich hab ein offizielles Schreiben.“ So funktioniert das eben. Sie hat es gelernt.
Die – gekürzte – Reportage ist dem Buch „Berlin ist eine Frau“ entnommen. Das Buch von Ariane Damerow ist unter dem Titel „Operation Sweety. Eine Liebe im Schatten der Mauer“ im Verlag Hoffmann und Campe erschienen.