piwik no script img

Archiv-Artikel

Happy Usedom!

In der taz saß ich zuerst im Glaskasten. Und irgendwie blieb das auch so. Der Glaskasten war in der Wattstraße ins Zimmerchen der Frauenredaktion hineingebaut worden - hier saß ab Herbst 1986 die Supernova „Wirtschaftsredaktion“. Später zogen Uli Kulke und ich in einen anderen Glaskasten – der lag auf dem speedway zu Satz & Layout. Und zuletzt saß ich im Glaskasten der Redaktionsleitung in der – damals noch – Kochstraße.

Wirtschaft, das war kein „Bewegungs“-Thema. Da konnte nicht automatisch jede/r eine Meinung haben wie bei Ökologie, 1. Mai oder RAF-Hungerstreik. Wirtschaft, das war für Uli und mich die Beschäftigung mit verdammt harten Fakten und verdammt raffinierten Methoden. Für Kalle auch.

Für mich war der Geschäftsführer der taz einer der wenigen „Versteher“ – nein, kein Frauen-Versteher, ein Wirtschaftsversteher. Eigentlich hätte das die Basis für eine wunderbare Freundschaft sein können. Zumindest Komplizenschaft wäre drin gewesen. Aber Kalle komplizte nicht innerhalb der taz. Kalle hatte Berater außerhalb der taz, mit denen er die tollsten Deals einstielte: den Kauf der Kochstraße, die Initiierung der Ost-taz, die Genossenschaft … ja, das waren Erfolge, das hat sich ausgezahlt! Und das zählt bei Unternehmen.

Ich schaffte den Bewährunsgaufstieg bei Kalle nur bis zur Ebene „temporärer Bündnispartner“, als es um die Installation einer Leitungsebene ging und ich als einzige Person das komplizierte Wahlrecht überlebte. Redaktionsleitung und Verlagsleitung saßen dann oft zusammen. Und ich lernte: dass die Empörungen und scharfkantigen Differenzen der Redaktion zum größeren Teil Schall und Rauch waren, während die Verlagsseite immer die Sachzwänge auf ihrer Seite hatte – und niemand konnte die so virtuos und unauffällig in seinem Sinne interpretieren wie Kalle. Ich lernte auch, dass das Schlagwort „Professionalisierung“ dort seine Grenze findet, wo die echte Macht sitzt. Ich stieg aus, als die nächste Sparmaßnahme des Verlags erhebliche Redaktionsstellen streichen sollte – Leute, man kann auch Frauen ent-eiern WOLLEN!

Inzwischen hat Kalle eine Genossenschaft neuen Typs geschaffen – das war via „normativer Kraft des Faktischen“ ein historischer Sieg, und das ist immer noch für die taz die Überlebensstrategie in einer Medienlandschaft voller Dramen.

Mein erster Kommentar auf der Wirtschaftsseite der taz beleuchtete die Übernahme der US-Firma Celanese durch den Hoechst-Konzern – die Amerikaner hatten für ihre Firma total trickreich den Kurs hochgetrieben, und ich wünschte dem Management „Happy Bermudas!“ Bei aller notwendigen Trennschärfe, Wirtschaft bleibt Wirtschaft, und auch Mittelständler brauchen und haben ihre Tricks. In diesem Sinne, lieber Kalle, herzlichen Glückwunsch zum 60. Und: Happy Usedom! Georgia Tornow

■ Georgia Tornow, taz-Wirtschaft seit 1986, taz-Redaktionsleitung vom 8.8.88 bis November 91