: Ist Israel gut für die Juden?
In ihrer Parteinahme für Israel gehen viele jüdische Organisationen in den USA zu weit. Sie sollten lieber außenpolitisch mäßigend wirken und sich den sozialen Fragen widmen
Ist es die höchste Pflicht für uns amerikanische Juden, unseren beträchtlichen Einfluss zu nutzen, um die Politik der USA nach der Israels auszurichten? Die jüdischen Organisationen sagen uns, es gäbe keinen Loyalitätskonflikt: beide Nationen hätten gemeinsame Werte und gemeinsame Interessen. Doch diese Aussage ist unsinnig.
Begleitet wird sie oft von der Behauptung, es gebe keine „Israel-Lobby“, sondern nur einfach US-Bürger, die ihren gewählten Repräsentanten und ihrer Regierung spontan ihre Meinung kundtun. Doch die Israel-Lobby hat, zusammen mit der israelischen Botschaft, den Kongress davon überzeugt, Israel freie Hand für seine Militäraktion im Libanon zu geben.
Die Assimilation der osteuropäischen Juden, die – wie mein Großvater – Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA ankamen, war bemerkenswert erfolgreich. Heute, wo Juden in der Wirtschafts- und Finanzwelt, in Kunst und Handwerk, Wissenschaft und Erziehung, Medien und Politik an prominenter Stelle mitwirken, ist fast in Vergessenheit geraten, wie viel offenenen Antisemitismus es in den Vereinigten Staaten noch vor 50 Jahren gab – an der Spitze der Gesellschaft genauso wie an ihren Rändern.
Schuldgefühle wegen des Holocaust und der calvinistische Philosemitismus des US-Protestantismus haben das amerikanische Judentum akzeptabel gemacht. Gleichzeitig hat die aus dem 17. Jahrhundert stammende Vorstellung der Puritaner von den USA als dem neuen Israel deren Nachfahren darauf vorbereitet, den Staat Israel als spirituell und politisch mit unserer Nation verwandt anzusehen.
Die Integration des amerikanischen Judentums ist eine gemeinsame Errungenschaft. Tatsächlich ist die Vorstellung,die USA seien eine völlig individualistische Kultur, zu simpel. Sozialer Fortschritt geht in den Vereinigten Staaten auf organisierte ethnische und religiöse Gruppen zurück. Die Juden wussten ihren Aufstieg von eingewanderten Arbeitern und Hausierern zu Wall-Street-Direktoren und Universitätspräsidenten einzusetzen, um ein sehr großes Maß an Einfluss auf Kultur und Politik zu erlangen.
Diese Erfolgsgeschichte wird jedoch durch die fatale Erinnerung an unser Unvermögen, den europäischen Juden während des Holocaust zu helfen, geschmälert. Diese Erfahrung und die unzerstörbare Erinnerung an den Genozid selbst sind elementare Bestandteile der Mentalität der amerikanischen Juden, die sich nun um die bedingungslose Verteidigung des Staates Israel zentriert. Sicher, die meisten amerikanischen Juden lauschen den Worten Jehovas mit Respekt. Aber israelischen Regierungs- und Generalstabchefs wird zugehört, als spächen sie direkt aus dem Alten Testament.
Das Engagement des amerikanischen Judentums für Israel wurde von der amerikanischen Elite begrüßt. Israel hat den US-Interessen im Nahen Osten im Kalten Krieg und seinen Stellvertreterkriegen, im Krieg gegen den Terror gedient. Zudem hat die Transformation einer bedeutenden Gruppe von jüdischen Kommentatoren, Intellektuellen und Wissenschaftlern von reinen Verfechtern universeller Werte zu Apologeten US-amerikanischer moralischer Überlegenheit und globaler Hegemonie unseren imperialen Herren sehr gut gefallen. Und sie hat jenen profitable Betätigungsfelder eröffnet, die von ihrem Geist leben.
Aber: Sind diese Entwicklungen gut für die Juden? Israels derzeitige Rolle als aggressiver US-Verbündeter im Nahen Osten ist keine Garantie für Israels Überleben. Die viel gefeierte „strategische Partnerschaft“ ist nicht notwendigerweise dauerhaft. Sollte die amerikanische Elite entscheiden, dass wichtigere strategische Interessen eine Zügelung oder gar ein Preisgeben Israels erfordern – sie würde nicht zögern, es zu tun.
Israel wurde anfangs militärisch nicht von den USA unterstützt, sondern von der UdSSR, dann war es mit Frankreich verbündet. Es war Eisenhower, der Israel 1956 zwang, seinen Angriff auf Ägypten zu beenden. Das Bündnis mit den USA begann erst in den 1960er-Jahren – und der erste Präsident Bush nahm noch die Haltung ein, dass die Vereinigten Staaten der Seniorpartner sind und keinen Ungehorsam dulden.
Sollte eine US-Regierung in naher Zukunft das Projekt seines Sohnes zur Vorherrschaft im Nahen Osten aufgeben und ein neues Verhältnis zu den arabischen Nationen suchen, dann würde es mit noch mehr Nachdruck zur Forderung nach palästinensischer Staatlichkeit zurückkehren, wie sie bereits Carter und Clinton zeitweise betrieben hatten. Der Protest des US-Judentums würde die Frage nach der doppelten Loyalität zur Folge haben, um die sich die jüdische Führung derzeit herumdrückt.
Das US-Judentum würde Israel besser dienen, wenn es eine langfristige Perspektive entwickeln würde. Jerusalem hat seit der Eroberung durch die Römer fünfzigmal den Besitzer gewechselt. Israels Politik kombiniert Brutalität gegenüber den Arabern mit Verachtung für sie. Das wird früher oder später Folgen haben. Sinn eines jüdischen Staates war, die Diaspora zu beschützen. Jetzt ist es die Diaspora, die den jüdischen Staat schützt. Die amerikanische Diaspora jedenfalls tut das weit über ihre Verhältnisse hinaus. Aber ihre Fähigkeit, Israel unendlich lange zu helfen, ist begrenzt.
Die Hauptverbündeten des amerikanischen Judentums waren innenpolitisch stets die liberalen Protestanten, die modernen Katholiken des Zweiten Vatikanischen Konzils und die fortschrittlichen Säkularisten. Heute geht das organisierte Judentum Bündnisse mit den protestantischen Fundamentalisten ein, deren Philosemitismus auf apokalyptischen Albträumen basiert. Einige von ihnen haben die Libanonkrise als Beginn des Armageddon begrüßt. Gleichzeitig bekämpfen sie den Pluralismus in der Öffentlichkeit, eine unabdingbare Voraussetzung für die Rechte der Juden in den Vereinigten Staaten.
Die USA laufen Gefahr, eine Nation zu werden, die sich nicht über Staatsbürgerlichkeit definiert, sondern über Absprachen zwischen rivalisierenden ethnischen und religiösen Gruppen, die ein illusorisches Projekt der globalen Vorherrschaft eint. Aber wenn unser imperiales Projekt zwangsläufig auseinanderbricht – werden dann Nobelpreise, unternehmerische Fähigkeiten und das biblische Bild aus dem 17. Jahrhundert von den Vereinigten Staaten als einem neuen Israel die jüdische Minderheit schützen? Sollte das US-Imperium mehr in einer beschämenden Niederlage enden als in einem geplanten Rückzug: der Ärger, der über die Erniedrigung folgen würde, und die daraus resultierenden Spannungen würden dem alten Antisemitismus neuen Antrieb geben.
Jüdische Energien in eine soziale Reform der Vereinigten Staaten einzubringen wäre ein besserer Weg, um das Überleben des amerikanischen Judentums zu sichern. USA, die sich selbst gegenüber realistischer eingestellt wären, würden eine angemessenere Sicht auf ihre internationalen Pflichten entwickeln. Sie könnten dabei Israel helfen, den Militarismus seiner politischen Kultur durch die soziale Prophezeiung des Alten Testaments zu ersetzen, die doch einmal die Quelle des amerikanischen Fortschrittsglaubens war.
Neulich erklärte ein israelischer General, Israel sei seit 6.000 Jahren im Krieg. Die heutige Generation in Israel und die Nachbarvölker würden ein paar Dekaden Frieden begrüßen. Die Vereinigten Staaten könnten helfen – indem sie ihren Einfluss und ihre Mittel einsetzen, Israel dazu zu bringen, wieder ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern aufzunehmen. Die demonstrative Kampfeslust großer Teile des amerikanischen Judentums ist ein zerstörerischer Verrat an den kreativen und humanen Errungenschaften des amerikanischen Judentums.
Die Fixierung des US-Judentums auf Israel war in den frühen Jahren des jüdischen Staates bei weitem nicht so ausgeprägt. Tatsächlich erklärten amerikanische Juden damals den Israelis, dass die USA und nicht Israel die Heimat der US-Juden seien. Merkwürdig, dass gerade jetzt, je weiter der Holocaust zeitlich zurückliegt, seine Bedeutung für die jüdischen Vorstellungswelten sowohl in den USA als auch in Israel zu wachsen scheint und eine ganze Reihe von Phantomen zum Leben erweckt.
Aber die Zeit für eine nüchternere Bewertung der historischen Dimensionen der Gegenwart ist gekommen. Die ist schwierig genug. NORMAN BIRNBAUM
Aus dem Englischen von Rüdiger Rossig