Die Schlacht um das Schlachtfeld

Der deutsche Gründungsmythos feiert im September 2009 Jubiläum. Höchste Zeit, einige der historischen Fakten zum Kampf der Germanen gegen die Römer im Teutoburger Wald klarzustellen. Eine Bestandsaufnahme

VON PHIL HILL

Susanne Wilbers-Rost steht auf einer typischen norddeutschen Weide, am Horizont im Norden sind die Dammer Berge. „Hier“, verkündet sie trocken, „ist der nördlichste Punkt der deutschen Mittelgebirge, das“, sie zeigt nach Süden, „ist der Kalkrieser Berg.“ Berg? Die Erhebung sieht man schon wegen der Baumkronen nicht! Es ist eben der nördlichste Punkt, nicht der höchste. Vor uns liegt ein Loch, ein viertel Fußballfeld groß, ein bis zwei Meter tief, das Neueste von etwa vierzig Löchern, die seit 1989 ausgehoben wurden.

Die Archäologin ist einem Superlativ auf der Spur: der berühmten Schlacht um die Zeitenwende zwischen Römern und Germanen. Befreiungsschlag oder Zivilisationsfrevel, Leidenschaft von Provinzpatrioten oder Geburtsstunde Europas, nationalistisches Heiligtum oder schamhaft verschwiegenes Nichtereignis – die „Schlacht im Teutoburger Wald“ hat viele Gesichter. Dank der Ausgrabungen weiß man jetzt zumindest, wo sie stattfand: bei Bramsche in Niedersachsen (siehe Karte).

Zur Geschichte: Kaiser Augustus hatte bis zur Elbe alle germanischen Stämme unterworfen. Sein Mann vor Ort, Quintilius Varus, kannte sich im Lande wenig aus und verließ sich auf den römisch gebildeten Fürstensohn Arminius vom Stamme der Cherusker. Eines Tages berichtete dieser vom Aufstand eines kleinen Stammes im sumpfigen Norden. Alsbald zogen drei Legionen, etwa zwanzigtausend Mann, durchs heutige Osnabrücker Land, um die Aufmüpfigen zu unterwerfen. Sie zogen in eine Falle.

Im dichten Wald, bei einem fiesen norddeutschen Herbststurm, gerieten die Legionen in einen Hinterhalt der Germanen unter Führung eben dieses Arminius. In den nächsten Tagen zogen die Römer weiter, wurden verlustreich geschlagen und letztlich – hier, vor dem Kalkrieser Berg – umzingelt. Kaum einer entkam. Zwischen Weser und Rhein fielen danach Lager, Kastelle und zwei neu gegründete Städte. Sieben Jahre lang versuchte Rom die Wiedereroberung – vergeblich. Mit dem erzwungenen römischen Verzicht waren Europas Weichen gestellt: Nicht nur römisch, auch germanisch sollte es werden. Im September 2009 jährt sich der Anfang dieses Schicksalskrieges zum zweitausendsten Mal. Größere „runde Jahrestage“ gibt es nördlich der Alpen nicht.

Einst war die Schlacht Deutschlands Gründungsmythos schlechthin, der zum Hermann regermanisierte Arminius des Volkes Stammvater. Ihm wurden Kitschgemälde, Kitschlieder („Als die Römer frech geworden, zogen sie in Deutschlands Norden“) und nicht zuletzt ein Kitschdenkmal bei Detmold zugedacht. Das liberale Deutschland spottete, wie Heinrich Heine: „Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, der Hermann, der edle Recke; die deutsche Nationalität, die siegte in diesem Drecke“ – und „subskribierte“ dennoch Geld, um das Monstrum zu bauen, denn ein solcher Freiheitskämpfer als Symbol war eine feine Sache! Doch aus dem Klingelbeutel war der von Ernst von Bandel geschaffene Klotz nicht zu bezahlen, da griff Kaiser Wilhelm I. in die eigene Tasche. Seit 1875 stand im (falsch) umbenannten „Teutoburger Wald“ der „Hermann“ mit erhobenem Schwerte und wachte über das Land. Wunderte er sich vielleicht, wieso nun doch ein „Cäsar“ es regierte und seine alten Freunde, die Gallier, plötzlich „Erbfeinde“ waren?

Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Der Schutt des letzten deutschen Krieges vergrub auch den allerersten – wenn er’s denn war, denn zur postnationalen Korrektheit gehört auch, vehement jede Identität von „Germanen“ und „Deutschen“ abzustreiten – es sei denn, um die Germanen in Sippenhaft zu nehmen. Um den Kelten ist eine vielschichtige moderne Mythologie entstanden, die bei Asterix anfängt und bei Artus kein Ende findet, die Germanen hingegen, die nicht in einem Comic-Dorf, sondern in der wirklichen Geschichte Rom die Grenzen zeigten, sind unpopulär. So konnte man etwa jüngst in einer Fernsehbiografie über den Kaiser Augustus sehen, wie kein Wörtchen über die Niederlage fiel, die ihn um die Vollendung seines Lebenswerkes brachte, stattdessen zitierte man seine Behauptung: „Germanien habe ich befriedet“: Die Selbsttäuschung eines gescheiterten Greisen wird zur zeitgenössischen „Wahrheit“.

Am Vorabend des Jubiläums erhebt sich die Schlacht aus der Versenkung. Oder wird erhoben, von Wilbers-Rost und ihrem achtköpfigen Team, die inzwischen die letzte Gewissheit über die „Örtlichkeit der Varusschlacht“ erbracht haben – eine wissenschaftliche Sensation. Denn ein antikes Schlachtfeld komplett auszugraben, um ein historisches Problem zu lösen, das hat es so noch nie gegeben. Nicht allerdings wegen ausgebliebener Versuche. Um 1500 fand man in Klöstern die alten Berichte über die längst vergessene Schlacht. Rom prügeln war gerade angesagt, Martin Luther etwa hatte seinen Hermann „von hertzen lib“. Die Falschnennung, von Linguisten verworfen, geht wohl auf seine Kappe. Wie der Cherusker daheim genannt wurde, weiß man nicht, der Name „Erminomar“ wird vorgeschlagen, es wird aber auch spekuliert, man habe es mit dem ursprünglichen Nibelungen-Siegfried zu tun. Ab dato suchte man jedenfalls ganz Westfalen, wo einst die Römer hausten, nach dem Heldenort ab, und da war kein Dorfpfarrer oder -lehrer, der nicht „stichhaltig“ beweisen konnte, nur bei ihm und sonst nirgends müsse er sein.

Letztlich kamen so siebenhundert „Schlachtfelder“ zusammen, und das ging selbst nach 1945 weiter, sodass man sich noch heute Theorien von Hildesheimer und Halberstädter Lokalpatrioten ergoogeln kann, die das Geschehen orten wollen. In den 1980er-Jahren „bewies“ ein Sauerländer sogar, nur über „Wasserscheidewege“ hätten die Römer marschieren können – durch seine Heimat also.

Doch diese fantasievollen Märchenzeiten sollten schon bald der Wahrheit weichen. Die seriöse Wissenschaft war sich wegen eines Tacitus-Berichtes schon immer ziemlich sicher gewesen: Irgendwo in den niedrigen Bergen westlich der oberen Weser – Detmold, Herford, Osnabrück – müsse das Schlachtgeschehen zu suchen sein, das Hermannsdenkmal steht an dem einen Ende des in Frage kommenden Gebiets, der Kalkrieser Berg an dem anderen.

Schon Theodor Mommsen, der große alte Mann der Altertumshistorie, hatte anhand von Münzfunden für Kalkriese argumentiert, wo sich eine Falle wie die des Arminius gut stellen ließe. Aber das nationale Deutschland wollte die Schlacht gefälligst da haben, wo das teure Mammutdenkmal stand, und nicht siebzig Kilometer entfernt. Auch legitime Zweifel waren aber angebracht: Denn Kalkriese liegt so weit nördlich, dass selbst Mommsen hin- und hergerissen war: Die Münzen sprachen dafür, die strategische Logik dagegen.

Die Wende kam 1987: Der britische Hobbyarchäologe Tony Clunn suchte das alte Mommsen’sche Gebiet ab und fand nicht nur mehr Münzen, sondern auch kleine Waffenstücke. So nahm sich die offizielle Archäologie der Sache an, ans Licht kamen sechstausend Stücke – und Stückchen – römischer Ausrüstung – und nur ein einziges germanisches, denn die Schlacht verlief, wie berichtet, wohl tatsächlich recht einseitig. Münzfunde grenzten den Zeitpunkt ein, Knochen junger, kräftiger Männer lagen in Massengräbern, Organisches hatte die richtige Kohlenstoffdatierung. Bis zur Jahrtausendwende war man sich sicher: Hier war’s gewesen. Kurz danach erhob sich, einsam in der strukturschwachen Landschaft, das neue Varusschlacht- Museum,

Spektakuläre Stücke, wie die berühmte Helmmaske eines römischen Offiziers, sind in der Ausstellung die Ausnahme; die Vitrinen füllen sich vor allem mit dem Kleinschrott, den die Sieger übersahen, als sie mit protodeutscher Gründlichkeit das Schlachtfeld leer räumten. Angereichert wird das Angebot mit pädagogischen Mitteln, einschließlich eines „Mommsen-Raumes“, denn der alte Historiker ist hier ein Held. Die Botschaft: Kaiser und Deutschnationale können bleiben, wo sie sind, in ihrem „Teutoburger Wald“, mit ihrem „Hermann“; hier, wo die Schlacht wirklich stattfand, wie es der linksliberale Mommsen, Lichtgestalt des „guten Deutschlands“, vermutete, betreibt man postnationale, wissenschaftliche Aufklärung. Der Detmolder Koloss ist passé; wer Geschichte auf zeitgenössische Weise erleben will, kommt mit der Familie an Ostern oder Pfingsten nach Kalkriese zum Volksfest und sieht, wie sich Hobbyrömer und Hobbygermanen aus ganz Europa gegenseitig mit Gummispeeren und Styroporsteinbrocken bearbeiten und nachher bei Wein und Met zusammensitzen. Rechtzeitig zum 2.000. Jahrestag haben die ArchäologInnen dieses wichtige Ereignis aus der Quarantäne, in der die nationalistische Vogelgrippe wohl tatsächlich ausgemerzt werden konnte, herausgeholt.

Inszeniert werden die Scheinschlachten am großen Überraschungsfund, der allerdings in keine Vitrine passt: am „Germanenwall“. Überraschend, weil ihn kein (überlieferter) Römer erwähnt, obwohl ihn keiner übersehen haben kann, denn er machte die von der Natur vorbereitete Falle komplett. Fünfhundert Meter schlängelte er sich am Fuß des Berges entlang, versehen mit Brustwerk, Entwässerungsgraben und Öffnungen für Ausfälle. Arminius baute diese Falle und lockte Varus hinein – ein genialer Schlag, der das Weltreich nicht nur anschlug, sondern auch erniedrigte: Denn dass „Barbaren“ so etwas gelingen, einer römischen Armee so etwas passieren konnte, stellte dessen Welt auf den Kopf. Arminius’ „Verrat“, das schreckliche Wetter, die Dummheit des Varus, die Tatsache, dass die Reiterei wohl etwas vorzeitig abhaute – das alles hielt für die römische Rechtfertigungspropaganda her, nur eins nicht: Die „Barbaren“ waren schlauer als wir, kämpften diszipliniert, waren uns immer einen Schritt voraus. Das durfte, konnte nicht sein. Ein Schleier fiel über das Ereignis. Überlebende bekamen als Belohnung die lebenslange Verbannung aus Italien, denn kein Mensch in der Heimat sollte am Kneipentisch erfahren können, was wirklich geschehen war. In den Schriftquellen kommen Varus, Arminius, ja selbst die vernichteten Legionen XVII, XVIII und XIX so spärlich vor, dass wir heute kaum etwas über sie wissen – dies aber wohl: Nie wieder wurde einer Legion eine dieser Nummern zugewiesen. Der Wall, Symbol der Katastrophe, zerfloss im Regen des Nordens, am Tiber schwieg man ihn tot.

Nicht mal eine kleine Erhebung, wie man sie von Stellen des Limes kennt, war zu sehen, als man um 1989 hier anfing. Es verrät erst die Verfärbung des von tausend Jahren bäuerlicher Düngung zugeschütteten Bodens, wo es einst Sand, Moor, Waldboden – oder einen Erdwall – gab. Man hat nun einen „Schnitt“ von 80 x 25 Metern freigelegt, den Wall auf dieser Breite wiederaufgebaut und die ursprüngliche Pflanzenwelt aufwachsen lassen – einschließlich eines Stückchens Sumpf, sodass das Nadelöhr, durch das die Varus-Armee hindurch musste, vorstellbar wird. Hier lag der Hauptpunkt des Kampfes: Die Römer versuchten den Wall zu stürmen, doch er hielt, wenige konnten fliehen, der Rest kapitulierte. Die tausenden Leichen wurden nackt ausgezogen – im ärmlichen Germanien war alles wertvoll – und liegen gelassen, bis eine römische Armee sechs Jahre später herkam und sie in Massengräbern bestattete, Mann und Maultier zusammen: So beschrieb es Tacitus, genauso fand man es, mit Spuren von Witterung und Raubtierbissen an den im Freien gelegenen Knochen.

Die Euphorie des Anfangs hat Deutschlands wohl vorerst letztes neues Großmuseum in Kalkriese allerdings schon hinter sich, jetzt kommen die Probleme: wenige neue Funde, abnehmende Besucherzahlen, knappe Forschungsmittel. Nachdem letztes Jahr ein wichtiger Befund an den Enden des Walls den Verlauf der Schlacht zu erhellen versprach, ruhte acht Monate lang die Grabung. An eine vollständige Wiederherstellung des Schlachtfeldes ist bei derzeitigen Mitteln gar nicht zu denken, die meisten Schnitte sind zugeschüttet. Auf dem Feld sollen sich nun zwei Armeen aus Sonnenblumen gegenüberstehen.

Die kurze finanzielle Leine schadet der Wissenschaft, so ein anonymer Insider: So hält man im Museum etwa eisern an der alten Mommsen’schen Theorie fest, die Römer wären von Minden an der Weser direkt westlich nach Kalkriese marschiert, obwohl kein Wort der Überlieferung und kein Fund aus einer Grabung dafür spricht. Der mögliche Vorteil: Da dort nichts zu finden sei, werde man mit seinen arg begrenzten Mitteln nicht danach graben müssen.

Gustav-Adolf Lehmann und Boris Dreyer, zwei Göttinger Historiker, glauben dagegen, der Bericht vom Überfall im „dichten Walde“ lege einen Anmarsch von südlich des Wiehengebirges nahe. Das wiederum impliziert einen Zusammenhang mit dem benachbarten Westfalen, wo sich die Funde häufen. Doch da gibt’s Probleme, denn der Westfale an sich ist untröstlich. Blieb, nachdem Deutschland längst nicht mehr „herrlich Hermannsland“ sein wollte, Arminius für ihn immer noch Lokalheld, so stellt sich nun heraus, dass diese treulose Tomate doch tatsächlich gewartet hat, bis der letzte Römer die Heimat verließ, bevor er angriff.

So wendet sich das offizielle Westfalen politisch korrekt den Römern zu und lässt die Lippe, ihre Hauptverkehrsader und Siedlungsschwerpunkt, zur Zivilisationsquelle hochstilisieren. In Haltern, wo das Museum mit den Römerfunden von den Lippelagern steht, hat man Varus ein Denkmal gebaut und schimpft Arminius einen „Verräter“ – welcher Revoluzzer war das nicht? Die einfachen Stammesleute aber halten an ihrem Glauben an eins der siebenhundert Nichtschlachtfelder unbetört fest. Der gemeinsame Nenner: Man ignoriert dieses arrivierte Schlachtfeld im hohen Norden. Für Johann Sebastian Kühlborn vom Westfälischen Museum für Archäologie in Münster, einen wichtigen Mann im mächtigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), ist das alles Unsinn, was die Nachbarn verzapfen. Er bedauere deren Irrtum, aber Tacitus habe ganz klar gesagt, das Varusschlachtfeld sei „nicht weit“ vom Land zwischen Ems und Lippe gelegen, Kalkriese sei aber nun mal „weit“. Irgendeine Schlacht werde das schon gewesen sein, wohl eine von denen im Wiedereroberungsfeldzug von 15 bis 16 n. Chr. Leider sind diese Schlachten aber gut beschrieben worden. Keine kommt in Frage.

Dabei arbeitet der LWL gerade an einem der spannendsten Funde überhaupt. Chefarchäologin Gabriele Isenberg sprudelt geradezu vor Freude über die Spuren von Bleiabbau und Bleiverarbeitung an der Lippe und im Sauerland, von den Römern eingeleitet und von den Germanen nach ihrem Sieg anscheinend weiterbetrieben. Denn die Implikationen sind immens: der erste handfeste Beweis für römische Wirtschaftsinteressen in Germanien; ein wichtiger Fall germanischen Lernens von ihren Feinden; und nicht zuletzt ein Indiz für Handel zwischen den beiden Völkern nach Abschluss des Krieges, denn für Blei hatten die Germanen kaum Verwendung, wenn sie es ausgruben, außer als Exportware. Doch gerade dieses Projekt wird vom dreifach runden Geburtstag des wichtigsten Ereignisses vor Ort säuberlich getrennt, so als gelte es, bloß keine öffentlichkeitswirksamen Zusammenhänge zuzulassen. Auch wissenschaftlich ist das unverständlich, fügen sich doch politische, wirtschaftliche und militärische Erkenntnisse zu einem Gesamtbild des damaligen Geschehens zusammen. Mitten im Bleirevier etwa liegt im Dörfchen Kneblinghausen ein längst bekanntes, doch kaum erforschtes Römerlager – möglicherweise Standort einer „Varus-Legion“ – zur Überwachung des Bergbaus dorthin kommandiert? Sollte man es nicht mal ausgraben?

Keine Chance – im Gegenteil: Man schüttet die Stätten systematisch zu. Zum Beispiel das jüngst ausgegrabene Hauptlager des Tiberius in Anreppen nahe Paderborn, laut Chronik 4 n. Chr. gegründet und vermutlich nach fünf Jahren wieder stillgelegt, in der Zwischenzeit wohl Kommandozentrale des Varus. 2004 ließ man anlässlich „2.000 Jahre Römerlager“ ein paar Sektkorken knallen, dann kamen die Bagger. Jetzt sollen, wie in Kalkriese, Pflanzungen Teile des Umrisses markieren. Wiederherstellungen wie am Limes sind zu teuer, deswegen konkurriert man also hilflos mit barocken Gärten.

In Niedersachsen gibt es das Gegenteil des allmächtigen Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Hier herrscht das autonome Kreischaos. Joseph Rothmann, Geschäftsführer der „Varusschlacht GmbH“, sieht keine Möglichkeit zur Kooperation seines Museums mit anderen Ausgrabungen im Lande – etwa mit Göttingen, wo Kreisarchäologe Klaus Grote in Heddemünden den Standort einer „Varus-Legion“ (vielleicht der XIX.) ausgräbt, Kalkriese ist daher auf Gedeih und Verderb an den nachbarlichen Landschaftsverband gekettet.

Und das ist immer noch besser als die Situation in Hessen, wo man in den letzten Jahren in Waldgirmes bei Wetzlar die älteste Stadt jenseits von Rhein und Donau fand, vielleicht die noch nie geortete „Augusta Taunensis“. Auch sie wurde im letzten Herbst wieder zugebaggert, denn das Land von Großbörse und Großflughafen hat sich die wenigen hunderttausend Euro, die die Sicherung dieses einmaligen Fundes gekostet hätte, lieber gespart. Achim Becker grub zuletzt mit einer Hartz-IV-Truppe den Brunnen der Stadt aus und konnte anhand von Holzbalken bestätigen, dass sie 4 v. Chr. gegründet – und 9 n. Chr. sicherlich fluchtartig geräumt wurde, die Bevölkerung floh wohl nach Mainz. Oder wurde abgeschlachtet, letzte Gewissheit wird man jetzt wohl nicht mehr kriegen.

Waldgirmes, Anreppen, Kalkriese – Stätten von Weltbedeutung, die nach einer neuen Art von Geschichtsdarstellung rufen, für die aber Deutschland bislang wenig bis gar nichts zu geben bereit ist. Aber auch: Zipfel eines Eisberges aus Lagern und Festungen, Schlachtfeldern und Häfen, Städten und Bergwerken, im ganzen Gebiet der verhinderten römischen Provinz „Germania Magna“ – etwa das heutige Hessen, Westfalen und Niedersachsen –, alles in etwa einem Meter Tiefe. Diese Geschichte, deren Umrisse jetzt schon deutlich geworden sind, ist mindestens so wichtig wie der jüngst zum Weltkulturerbe erhobene Limes, der in den folgenden mehr oder weniger friedlichen Jahrhunderten die Grenze markierte. Sie kann aber nur durch weitere Ausgrabungen erzählt werden, denn die Sieger, die normalerweise Geschichte schreiben, konnten nicht, und die Verlierer wollten nicht so richtig.

Die nationale Symbolschlacht geschah überall und nirgends, sie ist ein Märchen, in dem ein gottgleicher Held mit einem Schlag und ohne Verluste das Böse vernichtet. Genauso könnte man die Hexenhütte von Hänsel und Gretel „orten“. Erst die jüngsten Ausgrabungen von Kalkriese lassen die Schlacht historisch werden. Man kann erkunden, „wie es wirklich war“: der Anfang eines langen, blutigen Krieges nämlich, ein germanischer Sieg im geschichtlichen Rahmen, mit all seinen Widersprüchlichkeiten, kein Gottesschlag.

Die Varusschlacht war einer von zwei weltgeschichtlichen römisch-germanischen Stürmen, die die römische Kaiserzeit markieren; der zweite war die Völkerwanderung. Dazwischen gab es Ruhe, geografisch gesichert durch den Limes. Nun tritt der Krieg, genau nach zwei Jahrtausenden, aus dem Nebel hervor, als Herausforderung und Aufgabe, die Deutschland Europa und der Welt schuldet. Arbeitslose Akademiker, die sie bewältigen, strukturschwache Gebiete, die davon profitieren könnten, gibt es genug.

PHIL HILL, Jahrgang 1949, lebt als freier Autor in Berlin. Bislang hat er sich vor allem mit der Zeitgeschichte beschäftigt, aber nach einem Besuch in Kalkriese lässt ihn die berühmte Schlacht nicht mehr los