: Die Schildkröte unter den Festivals
Am Anfang stand die Unterstützung der Jugendzentrumsbewegung. Bis heute hat das unkommerzielle Wutzrock-Festival, das dieses Wochenende am Eichbaumsee stattfindet, nichts von seinem alternativen Charme verloren
Wenn es um Ausdauer geht, kann man von wenigen Tieren so viel lernen wie von den hierzulande äußerst raren Schildkröten. Vor allem ihrer Anpassungsfähigkeit hat die Gattung es dabei zu verdanken, dass sie schon seit über 250 Millionen Jahren über den Globus kriechen kann. Und auch in puncto individueller Lebensdauer lassen die gepanzerten Reptilien alle anderen weit hinter sich – ganze 270 Sommer soll die jüngst verstorbene Schildkröte König Faruks erlebt haben – und ist damit unbestritten das älteste bekannte Lebewesen. Immerhin ein Zehntel davon hat das Bergedorfer Wutzrock-Festival dieses Jahr erreicht und kann – mit etwas Mut zur groben Metapher – zu den Schildkröten unter den Festivals gezählt werden. Wobei man davon ausgehen kann, dass dessen Geschichte ungleich ereignisreicher verlaufen ist, als die der meisten Kriechtiere.
1978 bereits wurde das Festival zur Unterstützung der Jugendzentrumsbewegung „JUZ, aber dalli!“ ersonnen und fand vor 2.000 Zuschauern das erste Mal im Sommer 1979 im Billtal-Stadion statt – umsonst und draußen. Der Plan ging auf. Mit der lauten Feier ging man den Verantwortlichen im Rathaus derart auf den Wecker, dass der „Verein für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum in Bergedorf“ 1980 als Träger der freien Jugendhilfe anerkannt wurde. Ein weiteres Festival und etliche kleinere „Wutzröckchens“ später war der Kampf um ein eigenes Jugendzentrum gewonnen – was die Bergedorfer Jugend indes nicht davon abgehalten hat, bis heute weiter zu wutzrocken. Zog man zunächst mal mehr und mal weniger erfolgreich von Jahr zu Jahr an einen anderen Ort, finden sich die Bühnen und Buden seit dem Ende der Achtziger alljährlich zwischen Dove-Elbe und dem Badestrand des Eichbaumsees in Allermöhe. Und es ist nicht zuletzt der Ort, der das Wutzrock stetig weiter wachsen ließ. Mittlerweile finden sich vor zwei Bühnen jedes Jahr 15.000 BesucherInnen ein, man verfügt über ein funktionierendes Pfandsystem und kann stolz sein auf die Teilnahme illustrer, international bekannter Bands. So spielen dieses Jahr neben eher unbekannten, aber deswegen nicht minder interessanten Bands aller nur denkbaren Musikrichtungen heute Abend als Hauptact die „Die Sterne“. Neben Musik und der Lage direkt am Badestrand hat das Wutzrock allerdings noch mehr zu bieten. So gibt es jedes Jahr ein Kinderfest und auch Kleinkunst und Theater kommen nicht zu kurz.
Dass das Festival sich bis heute seinen alternativen Charme erhalten hat, liegt vor allem daran, dass von den zentralen Grundsätzen nicht abgewichen wird. Immer noch versteht man sich als Festival der Gegensätze, möchte bunt, leise und laut, jung und alt, antifaschistisch und trotz Unkommerzialität professionell sein. Noch immer keinen Cent muss berappen, wer sein Zelt auf den Wiesen aufbaut, den Bands lauscht oder sein Auto parkt. Möglich wird das durch die leidenschaftliche Arbeit eines gemeinnützigen Vereins, das unermüdliche Ehrenamt unzähliger HelferInnen und durch MusikerInnen, die wissen, dass ihr Engagement für ein unkommerzielles Festival unbezahlbar ist.
ROBERT MATTHIES