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Archiv-Artikel

In acht Sekunden um die Welt

Verkehr, Geld und Kommunikation haben schon vor hundert Jahren die Maßstäbe für die Vernetzung der Welt gesetzt. Wie sich diese Zukunftsentwürfe zu heutigen Projekten einer globalen Regierbarkeit verhalten, untersuchen drei neue Bücher und stoßen dabei auf eine Geschichte mit blinden Flecken

von NIELS WERBER

„Menschen tun wenig, was sie vor 1.000 oder 100.000 Jahren nicht auch schon getan haben“, stellt der Soziologe Helmut Willke in seinem neusten Buch über „Global Governance“ fest. Es liegt nahe anzunehmen, dass wir auch in 100 Jahren noch essen und schlafen, uns kleiden und vermehren. Aber die Soziologie untersucht ja auch nicht den Menschen, sondern die Gesellschaft, und die ändert sich rasch und radikal. Das weiß schon Wilhelm Ostwald, der 1910 einen Vortrag über nichts Geringeres als die „Organisation der Welt“ hält und den wiederum Markus Krajewski als Kronzeugen des Wandels in seinem gerade erschienenen Buch „Restlosigkeit“ zitiert. Bereits vor hundert Jahren hat man erwartet, dass Weltorganisationen zum Wohle der ganzen Menschheit mit sanfter Hand die Herrschaft übernehmen würden, um mit Weltgeld, Weltformat, Weltsprache und Weltpost die streitenden Nationen in eine Völkerfamilie zu verwandeln.

Einen solchen Umbruch verhandelt auch Willke: „Die umstürzenden Veränderungen seither verdanken sich in erster Linie Veränderungen sozialer Organisationsformen“. Ein solcher permanenter Umbau der Gesellschaft gelangt nur in Sicht, wenn man statt Menschen „kollektive und korporative Akteure“ ins Auge fasst, also Firmen, NGOs, internationale Institutionen, die heute zunehmend mit Sinn für die globale Reichweite ihrer Anliegen handeln. Früher mag das Regieren der Nationalstaaten gereicht haben. Heute, in einer verkehrs- und nachrichtentechnisch klein gewordenen, vernetzten Welt, gehören dagegen Umweltschutz, Migration, Copyright oder Industrienormen auf die Agenda „globaler Governanz“. Die Ausbildung „globaler Standards der Rechnungslegung, Leistungsmessung und Kontrolle“ in Bildung und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, Sport und Recht, so Willke, verdankt sich allerdings keiner zentralen Autorität. Eine Weltorganisation gibt es nicht, es gibt keinen Weltstaat und keine Weltregierung, sondern eine Selbststeuerung transnationaler Prozesse – und zwar nicht durch Menschen, sondern durch globale „Regimes“.

Was derartige „Regimes“ aus unserer Welt machen, hängt von Entscheidungsprozessen ab, die mehr oder weniger unvorhersehbar sind. Die Welt wird von globalen, multinationalen Agenturen wie der Fifa oder der WTO organisiert. Was dabei herauskommt, kann eigentlich niemand wissen. Wenn Willke dennoch eindrucksvoll schildert, wie „globale Governanz“ die Zukunft nationalstaatlicher Politik verändern wird, dann liegt es daran, dass dieses Regime Projektcharakter hat. Dass beispielsweise weltweite Standards für Messbarkeit, Vergleichbarkeit überall die Effizienz erhöhen könnten, ist ja keine Beschreibung der Lage, sondern eine Vision.

Und zwar im Weltmaßstab. Damit gehört die Vorstellung globaler Steuerungsprozesse zum Genre der Weltprojekte, die Krajewski in seinem Buch „Restlosigkeit“ untersucht. Weltprojekte entstehen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, also seitdem es weltweiten Austausch durch Verkehrsnetze gibt. Jules Vernes Phileas Fogg hat in seiner achtzigtägigen Reise vorgemacht, dass man die Welt als Netzwerk von Verkehrsverbindungen betrachten kann. Überall gibt es Anschlüsse. Das Prinzip der Anschlussfähigkeit regiert den Weltverkehr. Überall geht es weiter. Der Telegraf, der Schnelldampfer, die Eisenbahn lassen sich keinen Ort entgehen.

Der Wunsch nach Restlosigkeit treibt dieses überaus erfolgreiche Projekt „intensiver Verdichtung und Integration“ an. Es ist das weltumspannende Verkehrsnetz, in das sich um 1900 „Projekte mit ebenso globaler Reichweite einschreiben“. Es schließt uns noch heute an die DSL-Leitungen und lässt uns Meilen sammeln.

Mediale Verdichtung und Integration bilden auch bei Willke die Voraussetzungen „globaler Governanz“. Dieselbe These motiviert allerdings schon seit über hundert Jahren groß angelegte Entwürfe. Um die neuen Verkehrsverbindungen zu synchronisieren, führte man in den 1880er-Jahren die „Weltzeit“ ein; um Nachrichten grenzenlos werden zu lassen, entwickelte der Weltpostverein das Weltporto; das Morsealphabet setzte sich als globaler Standard der Telegrafie durch, Weltausstellungen wurden in Weltstädten präsentiert und trugen das ihre bei zur Verbreitung technischer, architektonischer oder auch ästhetischer Regeln. Muttersprachen, kulturelle Diversität, unterschiedliche Papier- oder Buchformate, Währungen oder Rechtsordnungen erschienen den Projektemachern als Hindernisse auf dem Weg in die Zukunft. Warum nicht eine Weltsprache, wenn jedermann um die Welt reist und um die Welt herum telegrafiert oder telefoniert? Warum nicht alles standardisieren, wenn Weltwirtschaft ohnehin in globaler Arbeitsteilung operiert? Warum nicht eine Währung? Projektemacher wie der Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald legen einen Entwurf nach dem anderen vor, deren Haupteigenschaft ihre globale Perspektive ist.

Aber keine Norm nutzt etwas, wenn sie nur in Ostwalds Großbothen gilt, kein Esperanto erleichtert die Verständigung, wenn es nur Sektierer sprechen; kein Weltgeld erleichtert dem Touristen oder Händler das Leben, wenn es nicht überall akzeptiert wird. Wenn alle diese Projekte gescheitert sind, dann können ihre Macher darauf hinweisen, dass dies nicht an ihnen lag. Die Idee war gut, es ist der unbedingte „Anspruch maximierter Geltung oder Reichweite“, der die Projekte auszeichnet – und eben auch scheitern lässt. Noch die jüngsten Projekte einer globalen Internetdemokratie oder eines friction free capitalism treten mit diesem Anspruch auf und vertrösten ihre Anhänger immer auf ein Später. Bald, wenn erst alle ans Netz angeschlossen sind, wenn der elektronische Markt vollkommen transparent ist, dann werden alle Träume wahr. Auch heute scheitern Weltprojekte an ihrer Dimensionierung und ziehen zugleich, von Pisa bis Gatt, ihre Energien aus dem Verweis auf ihre Globalität.

„Beschleunigt von den Eisenbahnnetzen, im Kielwasser von Dampfschiffahrtslinien, vergegenwärtigt von Telegraphenleitungen bildet sich eine Vorstellung heraus, die jeden noch so großen Entwurf realisierbar erscheinen läßt,“ konstatiert Krajewski. Und genau dieses Muster bleibt bis heute. Auch das Projekt einer „globalen Governanz“ bezieht Evidenzen aus dem Weltverkehr der Datenautobahnen und bereits erfolgter Standardisierung. Dass um jeden Standard, um jede Norm, um jede Regel ein Kampf der Nationalökonomien, Kulturen und Weltmächte ausgefochten wird, hat man geflissentlich übersehen, um 1900 ebenso wie heute. Ob es sich um Menschrechte, Patente, Bildungsstandards, best practice oder good governance handelt – oft sind gerade die Standards selbst umstritten, als ein De facto hegemonialer Verhältnisse.

Sicher hat Willke recht, „bench marks“ und „ratings“ setzen die nationalen Regierungen unter „Legitimationsdruck“. Aber wer legitimiert die Standards? Die Frage hatte schon Ostwald verdrängt. Derselbe blinde Fleck markiert die Weltprojekte um 1900 und um 2000. Es lohnt sich also sehr, aus Krajewskis Perspektive auf die erste Phase der Globalisierung ihre aktuellen Beschreibungen zu beobachten, und die Hypothese liegt nahe, dass noch aktuelle Formen soziologischer Projektion zum Teil den gleichen Regeln folgen wie die groß angelegten Entwürfe der Ostwalds, Feldhaus’, Rathenaus und Porstmanns, nämlich literarischen Regeln. Weltprojekte basieren nicht nur auf „Beispielen und Belegen“, sondern auch auf „Einbildungskraft“. Sie sind fantastisch.

Es ist nur auf den ersten Blick verblüffend, mit welcher Regelmäßigkeit der Weltverkehr Weltprojekte hervorbringt. Auch der Graf von Saint-Simon (1760–1825), dessen Lebenswerk Sebastian Gießmann in einer historischen Skizze der Vernetzung in seinem Buch „Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik“ kurz berührt, ist ein Projektemacher par excellence, mit Haut und Haaren engagiert, Dilettant auf vielen Gebieten. Selbstredend will Saint-Simon den Atlantik mit einem Kanal durch Mexiko mit dem Pazifik verbinden und Eurafrika mit einem Netz von Eisenbahnen, Telegrafenlinien und Dampferverbindungen überziehen. Der Weltverkehr ist das Projekt, das Projekte gebiert: Bei Saint-Simon ist es die „association universelle“ der Menschheit, bei Willke war es die „Globale Governanz“. Es geht um einen „verkehrs-, wirtschafts- und weltpolitischen Gesamtentwurf“, dessen Prinzip, wie Krajewski sagen würde, wiederum die Restlosigkeit ist, an der das Projekt selbstredend scheitert.

Saint-Simons Jünger mögen ungeduldig geworden sein. Nach dem Tod des Meisters fordern sie einen „industriellen Staatsstreich“, um die Vision eines Netzes der Netze (Straßen, Kanäle, Eisenbahnen, Banken, …) endlich zu realisieren. Dem Wohle des Projekts wird rücksichtslos geopfert, vergeblich. Reste dieser Projekte werden von anderen produktiv machen, vom Suez-Kanal-Projekt bis zum Durchstich Mittelamerikas. Und nachzutragen sind wiederum in der Erfolgsgeschichte dieser Projekte ihre blinden Flecken, wie die Kolonialisierung Ägyptens und die Annektierung Panamas. Weltprojekte, alte wie neue, scheinen ihre humanitären Kosten zum Wohle der Allgemeinheit stets zu verdrängen.

Weltprojekte um 1900 „katalysieren in untergründiger Weise heute sehr vertraute Errungenschaften“, resümiert Krajewski. Ihre Rückstände finden sich aber womöglich nicht allein in Handfestem wie DIN-Formaten, Kreditkarten oder Internetprotokollen und ihrer panoptischen dunklen Seite aus Überwachung und Kontrolle, sondern auch in der Weise, wie heute von Globalisierung zu handeln ist. Sie ist ein Weltprojekt und versorgt unzählige andere Projekte mit Energien. Zu ihren Resten zählen die schwarzen Löcher der Weltgesellschaft, wo man in Slums und Favelas nicht einmal auf Anschluss wartet.

Markus Krajewski: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900. Fischer Verlag, 365 S., 17,95 EuroSebastian Gießmann: Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik. 1740–1840. transcript, Bielefeld, 114 S., 15,80 EuroHellmut Willke: Global Governance. transcript, Bielefeld, 150 S., 13,50 Euro