Überleben ist alles

„Shoot Back! Leben am Abgrund“ ist ein eindrucksvolles Film-Tagebuch über den Alltag im Elendsviertel Mathari bei Nairobi (So., 21.15 Uhr, 3sat)

VON RENÉ MARTENS

Im September jährt sich zum 10. Mal der Todestag von Tupac Shakur, genannt 2 Pac. Am 7. September 1996 trafen den Hiphop-Star mehrere Kugeln, als er mit seinem Auto an einer Ampel hielt, sechs Tage später starb er.

Tupacs Musik dient als Soundtrack des Dokumentarfilms „Shoot Back! Leben am Abgrund“, der in Mathari entstand, einem Elendsbezirk der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Für Fred und Julius, den männlichen Protagonisten des von Michael Trabitzsch und Katharina Kiecol initiierten Films, ist 2 Pac ein Vorbild, weil sie seinen Erfolg so interpretieren, dass man es von ganz unten nach ganz oben schaffen kann. So enden wie er wollen sie natürlich nicht, aber die Umstände sind ihnen vertraut: Der mutmaßliche Mörder von 2 Pac und der angebliche Drahtzieher sind inzwischen selbst ermordet worden, offiziell ist die Tat aber bis heute nicht aufgeklärt.

In Mathare kann jeder der rund 500.000 Bewohner solche Geschichten von ermordeten Freunden und Verwandten erzählen. Das Milieu, in dem Tupac starb, liegt allerdings ein paar sozialökonomische Galaxien vom Slum Nairobis entfernt.

Das Projekt „Shoot Back!“ begann mit einem Digicam-Workshop: Trabitzsch und Kiecol animierten zwei Frauen und Männer um die 20, mit einer Kamera quasi Tagebuch zu führen. Maureen, Shera, Fred und Julius sind nicht nur die Macher des vom NDR produzierten Films, sie sind auch die Akteure, sie wechseln ständig ihre Rollen, man filmt und interviewt sich gegenseitig. Eine zweites Filmteam habe das Material dann um „professionelle“ Szenen ergänzt, die man für die Dramaturgie einfach braucht, sagt der zuständige Redakteur Christian Stichler.

Die vier Filmnovizen dokumentieren das Elend in ihrer Umgebung so, wie es keinem TV-Journalisten möglich gewesen wäre – gegen jeden mit einer Kamera bewaffneten Nicht-Einheimischen hätten sich die Bewohner Mathares wütend oder beschämt gewehrt. Die Menschen leben dort in Wellblechbaracken, ein Schlafzimmer muss für sechs Personen reichen, und die einzig verfügbare Droge ist selbst gebrannter Schnaps. Der macht schnell abhängig und nicht ganz so schnell blind. Selbstjustiz ist gang und gäbe, zumal die Polizei nur eine Bande unter vielen ist.

Und was man tut, wenn es brennt, ist auch eine knifflige Frage, denn es gibt nicht nur keine Feuerwehr, sondern auch kein Wasser – abgesehen von dem, was sich aus dem Rinnsal schöpfen lässt. Zur „Mittelschicht“ im Slum gehört man schon, wenn man die Schule abgeschlossen hat. So weit sind die Regie-Azubis Fred und Julius nie gekommen, und deshalb hätten sie, so Kiecol und Trabitzsch, keine Chance beim kenianischen Fernsehen.

Hoffnung bietet den Jugendlichen des Slums nur der Fußball: Die wegen ihrer Sozialarbeit bereits für den Friedensnobelpreis nominierte Mathare Youth Sports Association, der zirka 17.000 Jugendliche angehören, belohnt besondere Leistungen mit einem Schulstipendium oder der Beförderung in die Profimannschaft Mathare United. Der Film begleitet einige der Jugendlichen nach Oslo, zu einem der größten Jugendturniere der Welt – vermutlich wird es die einzige Reise ihres Lebens bleiben.

Am eindruckvollsten brachte bei der Filmpräsentation Katharina Keicols die Lage in Mathare auf den Punkt: Auf die Frage, was die Protagonisten heute machten, antwortete sie: „Sie sind noch am Leben.