Die Bürger vom Bahnhof Zoo

taz-Serie „Bezirkssache“ (Teil 5): Charlottenburg und Wilmersdorf stützten sich schon immer auf ein starkes Bürgertum. Die Deutsche Bahn bekommt das bürgerliche Selbstbewusstsein jetzt zu spüren, weil sie den Bahnhof Zoo zur Regionalstation degradierte. Der Protest offenbart viel über den Bezirk

Der Protest gegen die Bahnhofsabmeldung entspringt der Mitte der Gesellschaft

von ULRICH SCHULTE

Der Kampf um den Bahnhof Zoo wird von einem kleinen Reihenhaus am Halensee aus organisiert. Hier lebt Helga Frisch, eine 72 Jahre alte Dame. Im Moment besteht ihr Leben vor allem aus der Protestinitiative, die ihr eine 70-Stunden-Woche beschert. Die rot-weißen Stoppkellen von der letzten Demo hat die pensionierte Pfarrerin hinter der Eingangstür deponiert, zwischendurch muss sie immer wieder ans Telefon, Interviewanfragen koordinieren. Sie sagt: „Die Konzerne meinen, mit ihrem Geld Menschen an die Wand klatschen zu können. Ich lasse mir von der Bahn nicht aufzwingen, wohin ich zu fahren habe.“

Kein Thema hat Charlottenburg-Wilmersdorfer in den vergangenen Jahren so erregt wie die Degradierung des Bahnhofs Zoologischer Garten zur Regionalstation. Wo einst ICEs hielten, fahren seit Ende Mai nur noch Regionalzüge nach Chemnitz, Senftenberg oder Wünsdorf-Waldstadt. Frisch hat bis heute 128.000 Unterschriften gesammelt; normalerweise klingelt ihr Telefon 5-mal, nach Erscheinen eines Artikels auch 50-mal.

Vielleicht ist die Aufregung so groß, weil Bahnhöfe in der Bezirkshistorie immer als Kristallisationspunkte funktionierten: Der Zoo als der wichtigste, er war vor dem Mauerfall Dreh- und Angelpunkt ganz Westberlins. Aber auch um den Savignyplatz entwickelte sich ein Szenekiez, am Bahnhof Charlottenburg liegt die Einkaufsmeile Wilmersdorfer Straße um die Ecke.

Zumindest die Händler glauben, die Bahn habe das Herz der City West amputiert. Wie sehr sich das Ausbleiben der Fernreisenden auswirkt, kann Irmgard Flatau erzählen, eine resolute Frau mit kurzen, roten Haaren, die in der Bahnhofshalle seit zwölf Jahren mit ihrem Mann den Obstladen betreibt. Sie verkaufen seit dem Fahrplanwechsel 70 Prozent weniger, sagt sie. Drei Aushilfen haben sie entlassen, statt um 21 Uhr schließen sie den Laden jetzt schon um 20 Uhr. „Wenn nicht bei der Miete was passiert, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll“, sagt Flatau. Ähnliche Geschichten erzählen alle Händler in der Halle, auch in den Straßen um die Station bleiben Kunden weg.

Die Bahn kümmert das nicht. Noch nicht. „Wir machen weiter, bis wir Erfolg haben“, sagt Frisch. Der Protest gegen die Abmeldung des Bahnhofs entspringt der Mitte der Gesellschaft, die ehemalige Pfarrerin ist nur das beste Beispiel dafür. Sie spannt die Gemeindejugend und ehemalige Konfirmanden fürs Verteilen von Unterschriftenlisten ein, alle Händler der Gegend kennen ihr Gesicht. Viele der Menschen, die bei der Menschenkette die Stoppkellen hochhielten, sind zum ersten Mal in ihrem Leben für eine Forderung auf die Straße gegangen.

Der Verkehrskonzern hat sich mit einem selbstbewussten Bezirk angelegt, der sich immer auf ein starkes Bürgertum stützte. Die Charlottenburger sahen sich bis zur Eingemeindung 1920 in einer produktiven Konkurrenz zur benachbarten Metropole – das Charlottenburger Tor stellte das Pendant zum Brandenburger Tor dar. Das zwischen 1899 und 1905 errichtete Rathaus an der Otto-Suhr-Allee, ein beeindruckender Sandsteinbau, ist Sinnbild für dieses Selbstbewusstsein. Historiker erzählen, Kaiser Wilhelm II. habe sich so über den imposanten Turm geärgert, dass er vom Stadtschloss zum Schloss Charlottenburg einen Umweg fahren ließ – um die demokratische Trutzburg nicht sehen zu müssen.

Das Büro der Bezirksbürgermeisterin im ersten Stock ist weit und hell, die Fenster sind hoch. Monika Thiemen (SPD), die hier seit Ende 2001 die Geschäfte führt, regiert mit einer bunten Mischung. Der Baustadtrat ist von der CDU, für Wirtschaft ist ein FDPler zuständig, Umwelt und Soziales macht eine Grüne. Thiemen lobt die „sehr, sehr sachbezogene“ Zusammenarbeit mit ihren Rathauskollegen. „Wir versuchen, über Parteigrenzen hinweg die beste Lösung für den Bezirk zu finden.“

Dabei gilt für den Bezirk das Gleiche wie für Bund oder Land: Die größten Probleme löst die Regierung am besten zu Beginn der Legislaturperiode. In Charlottenburg pflanzten Kleingärtner jahrzehntelang auf stark belastetem Boden, manche der Gärten liegen auf einer alten Mülldeponie. Die großen Parteien fürchteten den Zorn der Kleingärtner – und ließen sie.

Nur ein paar Monate nach der Wahl im Dezember 2001 ließ das frischbesetzte, bunte Bezirksamt die belasteten Parzellen versiegeln. „Das ging nur, weil mehrere Farben zuständig waren“, sagt Thiemen. In der Bezirksverordnetenversammlung arbeiten meist SPD und Grüne zusammen, manchmal stimmt die PDS mit, manchmal geht es wild durcheinander. Im Wahlverhalten spiegelt sich der Einfluss der gutbürgerlichen Klientel: Die Volksparteien sind stark, die PDS ist bedeutungslos (siehe Kasten).

Beim Bahnhof Zoo sind sich allerdings alle einig. Thiemen, die ihre Worte meist sehr genau setzt, kann sich da richtig echauffieren: „Viele ICEs passieren den Bahnhof im Schritttempo, manchmal halten sie sogar, ohne die Türen zu öffnen. Das ist ein Stück aus dem Tollhaus.“ Das Argument der Bahn, sie spare durch das Durchfahren ein paar Minuten, hält sie für Unsinn. Auch Helga Frisch glaubt, in Wirklichkeit gehe es darum, Kundschaft in die Läden des Hauptbahnhofs zu locken.

Nichts ärgert die Verteidiger des Bahnhofs Zoo so sehr wie das Argument, das alte Westberlin stemme sich doch nur gegen die eigene Bedeutungslosigkeit. Im Charlottenburg-Wilmersdorf von heute hat es sowieso kaum noch etwas zu sagen. Jenseits der Villen beim Grunewald, wo Professorinnen, Bankmanager und pensionierte Regierungsräte ihre Vorgärten harken, offenbart sich die Vielfalt Charlottenburg-Wilmersdorfs. Rund um die Technische Universität am Ernst-Reuter-Platz finden sich ungezählte studentische Wohngemeinschaften.

In den Großsiedlungen im Norden leben viele Russlanddeutsche. Diese Wohngegenden gehören – neben den Kiezen um Mierendorff- und Klausenerplatz – zu den ärmeren Vierteln. Fast 17 Prozent der Menschen im Bezirk haben einen ausländischen Pass. Mittendrin, als Bindeglied beider Altbezirke, ist der oft niedergeschriebene Kurfürstendamm wieder im Kommen. Am der Gedächtniskirche zugewandten Teil des Boulevards siedeln Edelläden, in Nebenstraßen wie Knesebeck- oder Bleibtreustraße haben sich viele Restaurants etabliert. Der Ku’damm wird, wie auch Charlottenburg-Wilmersdorf, einen leereren Bahnhof Zoo verkraften.