: Keine Feier ohne Meyers
Zur Zwangsheirat verdonnerten die britischen Besatzer in der „operation marriage“ die Altprovinzen Rheinland und Westfalen. Und so zeigen sechzig Jahre Geschichte Nordrhein-Westfalens: Es braucht schon den ganzen Einsatz der Ministerpräsidenten von Franz Meyers bis Jürgen Rüttgers, um aus der Erfindung ein Land zu machen
VON KATHARINA HEIMEIER
Nordrhein-Westfalen könnte heute Montana heißen. Oder Sachsofrankonien. Diese Namensvorschläge aus der Bevölkerung gingen im Jahr 1963 in der Düsseldorfer Staatskanzlei ein. Der damalige CDU-Ministerpräsident Franz Meyers hatte in einem Preisausschreiben nach einem Ersatz für das wenig beliebte „Nordrhein-Westfalen“ fahnden lassen. Darauf hatten die britischen Besatzer das Land 1946 eilig getauft, als sie es unter dem Decknamen „operation marriage“ aus den ehemaligen preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen zusammengefügt hatten. Für die Menschen war es eher eine Zwangsheirat als ein Zusammenschluss aus Liebe. 17 Jahre später hatten sie sich noch immer nicht mit diesem Bindestrichwort „Nordrhein-Westfalen“ angefreundet. Was sollte das für eine Region sein – „Nordrhein“? Bis zu der Wortneuschöpfung der Briten hatte sie nicht existiert. Der von Meyers initiierte Wettbewerb stieß also vor allem bei den Rheinländern auf Resonanz. Sie fühlten sich durch den bisherigen Namen nur unzureichend vertreten.
Es war die Macht der Gewohnheit, die eine Umtaufe in Montana verhinderte, schreibt der Düsseldorfer Politologe Ulrich von Alemann in dem vor wenigen Jahren erschienenen Buch „Nordrhein-Westfalen – ein Land entdeckt sich neu“. Er gehört zu den wenigen Forschern, die sich mit dem Landesbewusstsein auseinander gesetzt haben. In einem Punkt setzte sich die Bevölkerung in der Namensfrage durch: Das amtliche Kürzel „NW“ wurde zunächst im Sprachgebrauch, 1991 auch im offiziellen Behördenjargon zu „NRW“.
Die Suche nach einem passenden Namen war einer von vielen Versuchen, eine Identität für Nordrhein-Westfalen zu finden. In dem westlichen Bundesland war es schwieriger, ein Landesbewusstsein zu entwickeln als beispielsweise in Bayern mit seiner Geschichte als Freistaat. Die Landesteile – bewohnt von den „sturen“ Westfalen und „lebenslustigen“ Rheinländern – pflegen bis heute ihre Eigenarten und begründen ihre Identität durch Abgrenzung. So hat sich eine Westfalen-Initiative die Stärkung des Westfälischen auf die Fahnen geschrieben. In Ostwestfalen lernen Kinder noch immer: „Was der Rheinländer verspricht, das hält der Westfale.“
Hartnäckig gehalten hat sich die Trennung mit den Landschaftschaftsverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe bis heute auf der Verwaltungsebene, und auch die Parteien haben sich schwer getan, unter dem Dach einer Landespartei zusammen zu finden. Innerhalb der CDU bestanden noch bis 1987 zwei eigenständige Landesverbände – einer für das Rheinland und einer für Westfalen.
Das größte Interesse an einem Landesbewusstsein hatten natürlich noch die Landesregierungen. Ministerpräsident Meyers reiste in dieser Mission sogar durch das Land. „Er hat richtige Kampagen durchgeführt“, erinnert sich von Alemann. Neben dem Wettbewerb setzte er auf Landesflagge und Landeswappen, auch wenn die Menschen darin nichts Gemeinsames fanden, sondern allein die symbolische Darstellung der drei Landesteile: den Rhein, die Lippische Rose und das springende Sachsenross. Der Vorschlag Meyers‘, eine Landeshymne komponieren zu lassen, stieß sogar auf Hohn und der 1960 eingeführte Landesverdienstorden wurde verspottet und daher lange Zeit nicht verliehen. Erst zum 40-jährigen Jubiläum des Landes holte Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) das „Ehrenzeichen für die Verdienste um das Land NRW“ wieder hervor und jetzt zum 60. ist auch die Hymne komponiert (NRW-SEITE 1).
Am Landesbewusstsein zweifeln lassen die Meinungsforscher. Eine Umfrage des Instituts infratest aus München stellte im Jahr 1982 die NRW-Identität in Frage: Während 29 Prozent der Befragten sich als Nordrhein-Westfalen bezeichneten, gaben 52 Prozent einzelne Teil-Regionen als Heimat an. Aktuelle Untersuchungen werden von der Landesregierung nicht veröffentlicht, doch von Alemann erkennt in den 1980er Jahren einen „Durchbruch zu einer deutlichen Landesidentität“.
Als Bewusstseinserweiterer wirkte dabei der Westdeutsche Rundfunk (WDR), der den Menschen im Rheinland und Westfalen mit seiner Berichterstattung einen Horizont über die Grenzen ihrer Regionen hinaus eröffnete. Schon der Ausbruch des WDR aus dem Nachkriegsverbund „Nordwestdeutscher Rundfunk“ (NWDR) bedeutete für Nordrhein-Westfalen einen großen Schritt. Inzwischen erkennt sogar der CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers die Leistung des in den 1970er Jahren von seiner Partei als „Rotfunk“ beschimpften WDR an. In einer Rede sagte er: „Wenn es in Nordrhein-Westfalen ein Landesbewusstsein gibt, dann ist das auch das Verdienst des WDR.“ Immerhin 800.000 Zuschauer erreicht das landespolitische Magazin Westpol jeden Sonntagabend. Der WDR war lange Zeit das einzige landesweite Medium. Die Presse im Land ist ohnehin regional verankert. Die Zeitungsverleger haben ihre Claims untereinander gut abgesteckt. Nur die taz nrw betrachtet das Land nicht durch eine regionale Brille, sondern nimmt einen landesweiten Blickwinkel ein.
Ernster als die Medien nahm Ministerpräsident Rau das Thema. In seiner Regierungszeit wurde er zu einer verbindenden Vaterfigur für das Land, das Schlagwort „versöhnen statt spalten“ zu seinem Credo. In seiner Regierungserklärung vom 10. Juni 1985 sagte er: „Wir in Nordrhein-Westfalen wissen: Wir leben in einem schönen und starken Land. Wir sind fast 17 Millionen Menschen. Unsere Herkunft ist unterschiedlich, unsere Zukunft ist gemeinsam. Wir leben gerne hier. Vielfalt ist unsere Stärke. Wir sind stolz auf unsere Heimat.“ Findige Strategen aus der Staatskanzlei ließen den Slogan „Wir in Nordrhein-Westfalen“ zusammen mit dem Wappen auf einen Aufkleber drucken, den die Menschen sich über die Stoßstangen ihrer Autos klebten.
Das Landeswappen wenige Zentimeter über dem Auspuff – das Verhältnis der Nordrhein-Westfalen ist nüchtern geblieben. Aus der Zwangsheirat wurde ein Bratkartoffelverhältnis, wie es von Alemann nennt. „Es hat früher viele Skeptiker und Kritiker von Nordrhein-Westfalen und auch immer wieder Debatten über eine Teilung gegeben. Das hat sich inzwischen normalisiert.“
Normal, kühl und distanziert, zeigten Raus Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück (beide SPD), weniger Einsatz für dieses Thema. Das gebürtige Nordlicht Steinbrück hatte ohnehin genug zu tun, trotz seines nordischen Zungenschlags in NRW anerkannt zu werden. Erst in Rüttgers Regierungszeit, dem ersten christdemokratischen Ministerpräsidenten seit 39 Jahren, eroberte sich das Landesbewusstsein wieder einen Platz auf der Agenda. Rüttgers sieht sich da in der Tradition des Landesvaters Rau und hat einen Nordrhein-Westfalen-Tag eingeführt: An diesem Wochenende sollen die Nordrhein-Westfalen den 60. Geburtstag ihres Landes feiern und künftig jedes Jahr. Und wenn das nicht zu mehr NRW-Patriotismus führt, dann bleibt ihm als letztes Mittel ja immer noch ein neues Preisausschreiben.