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Archiv-Artikel

Auch Eis hat Höhen und Tiefen

EISHOCKEY Drei rauf, drei runter: Für Jeff Tomlinson, den neuen Coach der Eisbären, war die erste Saison eine Zitterpartie. Heute und am Sonntag geht es für den Verein um alles oder nichts. Aber Tomlinson bleibt cool. Und schwärmt von der Fankultur im Berliner Osten

„Selbst in so schwierigen Zeiten ist das der beste Job der Welt“

EISBÄREN-TRAINER JEFF TOMLINSON

VON JENS UTHOFF

So eine Achterbahnfahrt ist nicht jedermanns Sache. Mal möchte man johlen, mal schreien. Und mal möchte man kotzen. Jeff Tomlinson hat seine erste Saison als Cheftrainer bei den Eisbären an einen Ritt in einem solchen Fahrgeschäft erinnert: „Ja, es gab viele Höhen und viele Tiefen“, sagt er, „aber zuletzt waren wir sehr stabil. Ich hoffe, die Kurve geht weiter nach oben.“

Tomlinson sitzt auf seinem Bürostuhl im Trainerraum des Hohenschönhausener Wellblechpalasts. Er gestikuliert, zeichnet die Höhen und die Tiefen mit der Hand in die Luft. Auf dem Bildschirm seines Rechners sieht man ein Standbild aus einem Eishockeyspiel. Hier analysiert Tomlinson die Spielzüge, hier plant er die Taktik.

Der 43-jährige Coach stand gerade noch auf dem Eis. Es sind die letzten Trainingseinheiten vor den wichtigsten Spielen des Jahres. Aber Tomlinson versucht, die Bedeutung der Matches herunterzuspielen: „Es sind Spiele wie alle anderen. Es gibt auch nur drei Punkte für einen Sieg.“

Das mag stimmen. Nur entscheidet die Punkteausbeute nun über alles oder nichts. Die Deutsche Eishockey-Liga (DEL) steht kurz vor den Play-offs, noch vier Spiele sind es für die Eisbären in der Hauptrunde. Derzeit sind die Berliner Tabellenzehnter. Das würde für die Pre-Play-offs reichen, also die Partien, in denen die letzten beiden Viertelfinalisten ausgespielt werden.

Werden die Eisbären aber Elfter, ist die Saison für sie vorbei. Ausgerechnet der Verein, der in den letzten neun Spielzeiten sieben Mal Meister wurde, der das Maß aller Dinge im deutschen Eishockey ist, wäre nach der Hauptrunde draußen. Zum ersten Mal seit der Saison 2000/01.

Man sieht Tomlinson diesen Druck nicht an. Auch nicht das Auf und Ab. Gewann sein Team mal drei Spiele in Folge, verloren sie die nächsten drei wieder. So in etwa geht das seit fast 50 Spielen. Zermürbend, würde man denken. „Ich mache jeden Tag sehr sorgfältig meine Arbeit, mehr kann ich nicht tun“, sagt der Kanadier. „Wenn ich schlafen gehe, denke ich: Ich habe gegeben, was ich geben kann.“ Was ihn für die nächsten Spiele zuversichtlich macht? Der Mann mit dem gestutzten Bart und dem straighten Blick überlegt kurz und sagt: „Wir sitzen im Driver’s Seat, wir haben den Vorteil.“

Er meint damit, dass die Eisbären die Play-offs aus eigener Kraft erreichen können: Vier Punkte Vorsprung hat das Team auf den unbeliebten elften Platz – wenn sie selbst ihre Spiele gewinnen, bleiben sie im Rennen. Am Wochenende sind die letzten beiden Heimspiele. Am heutigen Freitag gegen den EHC München. Und am Sonntag gegen den direkten Konkurrenten um Platz zehn, gegen Augsburg. Showdown am Ostbahnhof.

Ein Klaps mit dem Schläger

Beim Training am Dienstagmorgen deutet noch nicht viel auf die Alles-oder-nichts-Partien hin. Ruhige Arbeitsatmosphäre, man hört das Klackern der Pucks durch den Wellblechpalast. Tomlinson steht an der Taktiktafel, die an der Plexiglasscheibe am Rand befestigt ist. Er erläutert die nächste Übung. Kurz darauf schiebt er seinen Jungs die Plastikscheiben zu. Die Spieler fahren mit rasantem Antritt auf den Puck zu, schießen, und – zack! – Hockeystop, also Bremsen, dann Kehrtwende, und schon kommt ihnen der nächste Puck entgegen. Das Ganze eine Viertelstunde lang. Danach gibt es für die Spieler einen leichten aufmunternden Klaps mit dem Schläger. „Manchmal brauchen sie Streicheleinheiten“, wird Tomlinson später sagen. Mit seinem Akzent klingt es wie „Straikelainhaiten“. „Es bringt nichts, in schwierigen Situationen noch draufzuhauen“, sagt er.

Tomlinson weiß das, er hat selbst lange genug gespielt. Bereits mit vier Jahren fing er an. Zunächst in Winnipeg, der Stadt, in der er auch geboren wurde. Mit 17 Jahren wurde er Profi. Auch seine Karriere als aktiver Sportler glich in gewisser Weise einer Achterbahnfahrt, denn er spielte sowohl in der kanadischen Juniorenliga als auch in einer unteren US-Liga, er spielte bei beiden Berliner Vereinen (1997 bei den Capitals), in Manchester oder beim EHC Timmendorfer Strand. Sein Vorbild war der kanadische NHL-Star Denis Savard. „Alle verehrten Wayne Gretzky, das war mir zu langweilig“, sagt Tomlinson.

Beendet hat er seine Spielerkarriere 2003 bei den Eisbären. Danach betreute er als Coach das Nachwuchsteam. Von 2007 bis 2010 war Tomlinson Assistent des Eisbären-Erfolgstrainers Don Jackson und ab 2010 Trainer in Düsseldorf und Nürnberg – ehe er 2013 die schwere Nachfolge Jacksons antrat, der fünf Meistertitel mit den Eisbären holte.

Dass sich dieses „Nachhausekommen“, wie Tomlinson es nennt, so schwierig gestaltete, hätte er selbst nicht geglaubt: Drei Monate nach Amtsantritt standen die Eisbären auf dem letzten Tabellenplatz. Nur langsam kämpften sie sich aus der Krise. Es interessierte die wenigsten, dass das Tief auch mit viel Verletzungspech zu tun hatte – zwischenzeitlich fehlten sieben wichtige Stammspieler. Tomlinson war schuld, da waren sich viele Fans und Medien sicher. „Borussia Dortmund kann auch nicht fünf, sechs, sieben Verletzte ersetzen, und genauso ging es uns in dieser Saison“, erklärt der vermeintlich Schuldige.

Um mit derart schwierigen Situationen klarzukommen, stürzte er sich in Arbeit, erklärt er. In diesem Jahr habe er noch keinen freien Tag gehabt. Tomlinson lebt in Prenzlauer Berg. Seine Kinder sind in North Carolina, bei seiner Frau, von der er sich getrennt hat. Er ist der Berliner Skype-Papa. Treffen kann er die Kids während der Saison kaum, da meist alle drei Tage ein Spiel ist. Ein Typ, der jammert, ist Tomlinson aber ohnehin nicht. „Selbst die Eisbären in so schwierigen Zeiten zu trainieren ist für mich der beste Job der Welt.“

Warum das so ist? Tomlinson geht an den Rechner, zeigt eine Choreografie der Fans beim Spiel gegen Schwenningen. „Blau-Weiß-Rot sind unsre Farben – in guten wie in schlechten Tagen“, steht auf einem Banner, die ganze Kurve der Arena am Ostbahnhof sieht aus wie die französische Nationalflagge. „Fuck“, sagt Tomlinson als Ausdruck des Staunens, und: „Wahnsinn“. Kanada sei zwar ein Eishockeyland, aber eine solche Fankultur gebe es nur hier. „Ich könnte auch da stehen“, sagt er und zeigt in die Fankurve. Und dann redet er von der „Passion“ der Fans.

Wie sehr insbesondere der Osten der Stadt mit den Eisbären verbunden ist, merke er bereits morgens beim Brötchenholen. Im Moment bekomme er da von den Leuten zu hören: „Schrei die Jungs ordentlich an!“ Sicher keine Aufforderung, der er nachkommt. Aber eine, die ihm die Bedeutung des Klubs schon zum Frühstück aufs Brot schmiert.

Das Mittagessen hingegen muss an diesem Trainingstag warten. Tomlinson hat ein Meeting mit den Eisbären-Verantwortlichen. Bevor er sein Trainerbüro verlässt und Richtung Besprechungsraum verschwindet, will er aber gegenüber dem Reporter noch eine Sache klarstellen: „Ich hasse Achterbahnfahren. Würde ich nie machen.“