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Archiv-Artikel

Lesung an Salat

Tobias Hülswitt las in einem Dunkelrestaurant aus seinem neuen Roman „Der kleine Herr Mister“

Der Autor Tobias Hülswitt empfängt seine Gäste am Eingang des Berliner Dunkelrestaurants „Noctis Vagus“. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat hierhin eingeladen, zur Buchpräsentation ihres Popliteraten. Der wird aus seinem neuen Roman „Der kleine Herr Mister“ lesen. Dazu servieren sehbehinderte KellnerInnen im stockdunklen Kellersaal der versammelten Journaille ein Drei-Gang-Menü.

Hülswitts Roman spielt in der Berliner Boheme der Mittedreißigjährigen. Ein junger Maler lehnt einen faustischen Pakt mit einem kleinen Herr Mister abund gerät in einen Strudel von Erfolg und spiritueller Selbsterkenntnis. In einer Passage speist der junge Protagonist mit dem Unternehmer Herr Verhagen in einem Dunkelrestaurant. Während des Essens spricht Verhagen über seine Liebe zum europäischen Kulturerbe und definiert die wahre Kunst als Leiden an der Welt.

Doch noch sind wir in der Bar, und da ist es hell. Hülswitt ist freundlich, stellt seinen Lektor und einen Freund vor. Trotzdem ist mir komisch zumute: Was, wenn mich in der radikalen Finsternis eine panische Angst befällt? Wenn ich versehentlich den Wein über die Hosen des Lektors schütte? Muss eine Lesung ein Event sein? Wo wird die nächste Buchpräsentation stattfinden? In einem Zeppelin?

Begleitet von einer Mitarbeiterin steigen wir zu acht in den Keller. In gedämpftem Licht werden wir angewiesen, eine Polonaise zu bilden. Anderorts kriegt man für so was Hausverbot und das zu Recht. Doch hier ist alles ein bisschen anders. Ich halte mich an den Lektor. Wir wandern durch die schweren Metalltüren einer „Lichtschleuse“ in die unbekannte Unterwelt und setzen uns an einen Tisch. Anfangs ist es beklemmend. Deswegen muss Alkohol her. Man schenkt sich selber ein, den Finger im Glas, so, wie Hülswitt es in seinem Buch beschreibt. Damit hat er einen schlau in seine Geschichte verpflanzt.

Der erste Gang wird serviert. Es könnte Ente auf Salat sein. Anfangs sprechen vor allem die Männer. Ohne den Gestus zu sehen, ist nicht zu erkennen, wer spricht, wer zuhört, wer wem ins Wort fallen wird. So hält man sich alsbald an die Nachbarin und den Nachbarn. Es ergeben sich konzentrierte, angenehme Gespräche. Nach dem ersten Gang liest Hülswitt aus seinem Buch. Er hat eine angenehme Stimme und ohne visuelle Ablenkung ist man schnell in der Geschichte drin.

Spätestens beim Hauptgang scheinen sich alle an die Situation gewöhnt zu haben. Die Sätze, die fallen, sind die gleichen wie im Licht: „In München ist das kulinarische Niveau höher als in Berlin.“, „Krieg ich noch eine Einladung zum Sommerfest des Verlags?“, „… der Poststrukturalismus ist meiner Meinung nach eher weiblich, …“ Diese Dinnerparty ist aufregend, mitunter lustig, aber nur deshalb, weil ich weiß, dass ich bald gehen und wieder sehen werde. Die Konzentration auf das Wort wächst ins Unermessliche, denn es ist alles, was das Gespräch hergibt. Von Sinnerweiterung kann nicht die Rede sein; dem Wort traue ich schon lange nicht mehr.

ARIANE VON GRAFFENRIED