Wohnen für Fortgeschrittene

BAUPROJEKTE Im Hamburger Stadtteil Altona-Nord steht gemeinschaftliches Wohnen hoch im Kurs. Die Szene ist bürgerlicher geworden. Das Solidarprinzip gilt bei vielen immer noch

entstanden erstmalig in den Achtzigern in der Hausbesetzer-Szene, Altbauten wurden auf eigene Faust saniert und verwaltet, in den Neunzigern begann man neu zu bauen.

■ Früher wurden 60 Prozent der Projekte genossenschaftlich finanziert, 40 Prozent über Eigentum. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt.

■ 95 Projekte warten derzeit auf ein Grundstück bei der Hamburger Agentur für Baugemeinschaften.

■ Die Qualität des Konzepts gilt bei der Bewerbung um ein Grundstück seit dem Wohnungsbauentwicklungsplan von 2009, nicht mehr das höchste Gebot.

■ Aus Mangel an Grundstücken werden immer öfter Konversionsflächen genutzt.

■ Die Zahl der „Wohnprojekte 60+“ steigt stetig

■ Die 9. Hamburger Wohnprojekte-Tage finden am 24. und 25. September statt. Infos unter www.stattbau-hamburg.de.

VON EMILIA SMECHOWSKI

Aus seiner Fahrradtasche zieht Sven Liebrecht die Baupläne: Einen Grundstücksplan, die dunkelrote Außenfassade eines Gründerzeitbaus, einen langen Flur, von dem einzelne Wohnungen abgehen. Es sind die Pläne der Stattschule – und sein zukünftiges Zuhause. Liebrecht ist Architekt. Für den Bau ihres Wohnprojekts haben er und seine 49 Mitstreiter jedoch ein anderes Büro beauftragt. „Ich wollte nicht das ewige schwarze Schaf sein und für alles die Verantwortung übernehmen“, sagt er.

Stolz ist Sven Liebrecht trotzdem. Immer wieder streicht er sorgfältig das Papier glatt, erklärt, wo der Fahrstuhl gebaut wird und was sonst noch auf dem Grundstück am Anfang der Chemnitzstraße entsteht. Schnell wird deutlich: Was Liebrecht anpackt, geht selten schief. In die Stattschule will er zusammen mit seiner Freundin ziehen. Ein gemeinschaftliches Wohnprojekt war schon immer sein Traum. „Da gibt es nicht diese Zwangskommunikation wie in WGs“, sagt er. Man wohnt zusammen, hockt aber nicht aufeinander. Jeder hat seine eigenen vier Wände.

Sieben Jahre ist es mittlerweile her, dass ein paar Freunde beschlossen, die ehemalige Grundschule umzubauen. 35 Wohnungen sind geplant, ein großer Gemeinschaftsraum mit Küche und ohne Fernseher im Obergeschoss, eine Werkstatt im Keller. Es soll einen Projektchor geben und eine Band. Die 35 Kinder wollen die Bewohner gemeinschaftlich betreuen. „Für viele von uns ein entscheidender Vorteil“, sagt Sven Liebrecht.

Um ihr Projekt zu finanzieren, haben sie sich keiner bestehenden Genossenschaft angeschlossen, sondern gleich eine eigene gegründet. Dass durch den Eigenanteil, den jeder beisteuern muss, Menschen mit geringem Einkommen ausgeschlossen werden, war für die Gruppe ein Problem, das sie nicht einfach hinnehmen wollte. Fünf von ihnen sind Großverdiener und haben in Einzelabsprache das Eigenkapital derjenigen übernommen, die es nicht aufbringen konnten – als Leihgabe. „Meines Wissens haben wir auch zwei Hartz-IV-Empfänger in unseren Reihen“, sagt Sven Liebrecht.

Er kann sich gut erklären, warum gerade das Gebiet rund um die Chemnitzstraße ein Magnet geworden ist für unterschiedlichste Wohnprojekte. „Der Bezirk Altona Nord ist schön durchmischt, ein Gentrifizierungsprozess hat noch nicht eingesetzt.“ Ein kurzer Moment vergeht, dann sagt er: „Naja, Projekte können den Stadtteil ja auch verändern. Die ganze Wohnprojekt-Szene ist schon bürgerlicher geworden, ein einziger Klüngel.“

„Die ganze Szene ist schon bürgerlicher geworden, ein einziger Klüngel“

Sven Liebrecht

Martyn Leder sieht das genauso – aber es stört ihn nicht besonders. Seit zwölf Jahren wohnt er in der Chemnitzstraße 25, in einem zweigeschossigen, gelben Haus mit Garten, das sofort auffällt. Auf den Balkonen leuchten Geranien in rot und weiß, Efeu rankt sich um das Geländer, auf einem steht ein Vogelhäuschen. In dem kleinen Garten blüht ein Apfelbaum, weiter hinten gibt es einen Lilienteich. „Baukombinat Altona“ nennt sich das Wohnprojekt der sechs Männer, die dort wohnen. Es ist ein Schwulenprojekt mit einem solidarischen Prinzip, erklärt Martyn Leder. Denn eine der Wohnungen wird durchgängig an einen HIV-positiven Mann vermietet, eine Initiative, die durch den Hospizverein Hamburg Leuchtfeuer organisiert und mitfinanziert wird. Ansonsten herrscht im Haus aber nach zwölf Jahren eine Stimmung wie unter normalen Nachbarn, sagt Martyn Leder. Er hat sich damit abgefunden. Ein Gemeinschaftsraum war ihnen damals zu teuer – und heute machen eben alle nach einem anstrengenden Tag gern die Tür zu. „Manchmal frage ich mich aber schon: Wo ist da noch der Projektcharakter?“

Direkt gegenüber, in einem großen schlichten Neubau, ist der Projektcharakter noch frisch. Der Hausflur riecht nach Putz und Farbe, in Monika Thelosens Wohnung verströmt eine Duftlampe Zitronenduft. Vor drei Monaten sind die 28 Bewohner des Projekts Inter-Pares hier eingezogen, nach einer für Wohnprojekte üblichen Planungs- und Bauphase von sieben Jahren. Mit ihren 52 Jahren gehört Monika Thelosen zu den Älteren. Sie trägt ihre Locken kurz, an einem Ohr blitzt ein orangefarbener Ohrring. Sie sitzt in ihrer neuen Einbauküche und erklärt, dass sie sich wie alle anderen im Haus an diese Art von Zusammenleben noch gewöhnen müsse. „Muss man jetzt mit jedem reden, den man im Flur trifft?“ Wenn was kaputt geht, kann sie nicht bei der Hausverwaltung anrufen und sich beschweren – sie muss sich selbst kümmern. Noch immer treffen sich die Bewohner wöchentlich, es gibt viele organisatorische Fragen zu klären. Wer schippt im Winter Schnee? Wer bepflanzt den Garten?

Anders als in den Achtzigern sind Wohnprojekte heute selten die Folge von Hausbesetzungen. Sie sind in der bürgerlichen Mitte angekommen. Dennoch kann man mit ihnen ein politisches Zeichen setzen, findet Thelosen. Indem man nämlich nicht dem Trend zur Eigentumswohnung folgt. Sie zahlt Miete, genau wie Sven Liebrecht und Martyn Leder. „Wenn das Haus nie verkauft werden kann, dann wird damit auch nicht spekuliert“, sagt sie.