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Archiv-Artikel

Jungs hängen über ein Jahr hinterher

Nur ein Drittel der Jungen ist in der Schule noch so gut wie die Mädchen. Der Rest kann nicht mithalten – auch weil ihre Macho-Rolle sie behindert

„Schulen sind jungengerecht – für Schüler aus gebildeten Elternhäusern“

VON ANNEGRET NILL

„Jungs machen nicht nur Probleme, sie haben auch eine Menge Probleme“, sagt Uwe Sielert. Jungs prügeln sich häufiger, es fehlt ihnen an Rollenvorbildern, und viele haben schlechte Noten, zählt der Professor auf, der Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Sexual- und Geschlechterpädagogik an der Uni Kiel lehrt. Sind die Jungs also benachteiligt?

Fakt ist: Immer mehr Jungs scheitern in der Schule. Der erste Nationale Bildungsbericht von Juni 2006 belegt, dass zwei Drittel aller Schulabbrecher und drei Viertel aller Sonderschüler männlich sind. Sie stellen den Hauptanteil der Schulverweigerer, Sitzenbleiber und Verhaltensauffälligen. Auch in der Hauptschule sind sie überproportional vertreten. Beim Abitur fallen sie dafür ab. 56 Prozent der Abiturienten sind mittlerweile weiblich. Ein Bildungsvorsprung, den Frauen im Berufsleben leider noch nicht umsetzen können.

Angesichts solcher Zahlen fordert der Geschlechterpädagoge Sielert, dass die Schule mehr auf die Bedürfnisse der Jungs eingehen müsse. Auch müssten mehr Männer als Lehrer gewonnen werden – Lehrer, die im Umgang mit Stärken und besonders auch mit Schwächen Rollenvorbilder sein könnten. Denn die „Durchsetzungskultur der Männlichkeitskultur“ solle nicht wieder durch die Hintertür eingeführt werden, meint Sielert.

Fakt ist allerdings außerdem: Jungs sind zugleich in der Spitzengruppe überproportional vertreten. Die Pisa-Ergebnisse zeigen nicht nur, dass mehr Jungs zu den Risikoschülern in den vier Kompetenzbereichen Deutsch, Mathematik, Physik und Chemie (12 Prozent gegenüber 9,7 Mädchen) gehören. Wer die vier Kompetenzbereiche gemeinsam betrachtet, sieht auch, dass mehr Jungen als Mädchen in allen Bereichen eine hohe Kompetenz aufweisen. Waltraud Cornelißen, Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München: „Bei den Jungen ist sowohl die Spitzengruppe ausgeprägter als auch der Anteil der Aussteiger aus dem Schulsystem höher.“ Auch Sielert bestätigt, dass 20 bis 30 Prozent der Jungen ähnlich gute Leistungen wie die besten Mädchen bringen: „Die Schulen sind durchaus jungengerecht für Schüler, die aus gebildeten Elternhäusern kommen.“

Der Abstand zwischen den Besten und den Schlechtesten, in Deutschland ohnehin groß, fällt bei den Jungs extrem aus. Und für Jungs, denen das Lernen schwer fällt, ist der Leidensweg lang. Das deutsche Schulsystem sortiert leistungsschwache Schüler aus, anstatt sie rechtzeitig zu fördern. Sie werden später eingeschult, müssen die Klasse wiederholen oder werden an weniger anspruchsvolle Schulen verwiesen. Und wer einmal auf der untersten Stufe, der Sonderschule, angekommen ist, geht häufig ohne Abschluss. Leider sind das mittlerweile viele. Ein genauerer Blick auf die Daten über schulisches Scheitern lohnt sich: Die Zahl der Schulabbrecher ist mit 9,5 Prozent bei Jungen deutscher Herkunft zwar hoch. Erschreckend ist aber eine andere Zahl: Fast ein Viertel (19,7 Prozent) der Jungs mit Migrationshintergrund verlässt die Schule ohne einen Abschluss. Damit ist das Risiko für sie doppelt so hoch. Auch die Schulabbrecher-Quote ausländischer Mädchen liegt mit 12,9 Prozent noch vor der der deutschen Jungen. Innerhalb der Schülergruppen mit Migrationshintergrund gibt es ebenfalls Unterschiede: Laut Bildungsbericht stehen Jugendliche aus der Türkei deutlich schlechter da als andere Gruppen.

Ein Grund für das schlechte Abschneiden von Jungen mit Migrationshintergrund liegt darin, dass überdurchschnittlich viele Migrantenfamilien in Deutschland zur unteren sozialen Schicht gehören. Der enge Zusammenhang von sozialer Herkunft und guten Noten in Deutschland ist mit Pisa bewiesen. Sie treffen also auf ein Schulsystem, das sie von Anfang an benachteiligt. Dazu können noch Sprachprobleme kommen und die Schwierigkeit, zwischen zwei Welten zu balancieren.

Jugendforscherin Cornelißen sieht das Problem auch in den Rollenbildern. Viele Jungs mit Migrationshintergrund wachsen noch mit traditionellen Männlichkeitsbildern auf, die Männer zu Helden und Patriarchen stilisieren. Dieses alte Macho-Muster ist aber in der Krise. Jobs für wenig oder nicht Qualifizierte brechen gerade in klassisch männlichen Bereichen wie Industrie und Bau weg. Zudem passt das Ideal nicht in den heutigen Schulalltag, der von Lehrerinnen bestimmt wird. 70 Prozent der Lehrenden sind inzwischen Frauen, in Grundschulen sogar 83 Prozent. Viele Jungs kommen damit nicht zurecht.

Wichtig wären daher Lehrer mit Migrationshintergrund, die die Probleme kennen. So aber ist der Konflikt spätestens vorprogrammiert, wenn die Jungen die Autorität der Lehrerinnen in Frage stellen. Sielert: „Jungen werden eher dazu erzogen, ihre Probleme nach außen zu kehren und Widerstand zu leisten.“ Dazu kommt, dass ihnen ein anderes, modernes Männlichkeitsbild, auf das sich laut Sielert viele Jungen aus gebildeten Familien stürzen, nicht offen steht: Gemeint ist der flexible Karrieremensch der New Economy mit technischem Know-how, der sich nicht mit Schwächen aufhält. Dieses Männlichkeitsbild, das Jungs auf Wettbewerb und Leistung trimmt, passt nicht zum Lehrerberuf. Ein Grund dafür, dass immer weniger Männer Lehrer werden wollen?

Cornelißen warnt: „Wir dürfen das Bild von männlicher Dominanz nicht respektieren. Es muss sowohl für Mädchen als auch für Jungen möglich sein, ein breiteres Spektrum von Fähigkeiten zu entwickeln, als bisher gesellschaftlich erlaubt.“ Während also Mädchen beim Girls Day technische Berufe kennen lernen, sollten Jungen in soziale Berufe hineinschauen und lernen, Hilfsbedürftige stärker wahrzunehmen. Sielert mahnt, Mädchen jetzt keinesfalls zu vernachlässigen: „Mädchen aus benachteiligten Familien haben oft ähnliche Probleme wie die Jungen, erbringen aber die größere Anpassungsleistung. Deshalb haben sie in der Schule mehr Erfolg.“

Während Jungs nach wie vor in Mathematik, Physik und Chemie besser sind, liegen die 15-jährigen Mädchen international im Durchschnitt über ein Lernjahr vorn. In Deutschland ist der Vorsprung sogar noch größer – Jungs lesen hier noch weniger gern als ihre Altersgenossen in anderen Ländern. Lesen ist jedoch in der Wissensgesellschaft eine grundlegende Schlüsselkompetenz. Auch die Schule funktioniert laut Cornelißen inzwischen immer mehr über Sprache – ein weiterer Grund, weshalb viele Jungs scheitern.

Ein Schlüssel zum Leserückstand der Jungs ist die Lesemotivation. Robert Elstner, Verantwortlicher für die Kinder- und Jugendmedienarbeit bei der Stadtbibliothek in Leipzig, möchte daher, dass die Leseinteres- sen von Jungs stärker berücksichtigt werden. Fantasy-Romane, die Kultbücher von Kerouac und Konsorten sowie Popliteratur à la Stuckrad-Barre und Beigbeder sollten in Schulbibliotheken und Unterricht einen Platz finden. Außerdem stünden Comics, Sachbücher und Autobiografien von Musikern, Hackern und Sportlern hoch im Kurs. Cornelißen und Sielert plädieren für reflexive Koedukation. Das bedeutet, dass Mädchen und Jungen zum Beispiel in Fächern wie Physik oder Deutsch, in denen die Leistungen je nach Geschlecht weit auseinander liegen, getrennt unterrichtet werden. Oder im Förderunterricht. Denn leistungsschwache Jungen mit traditionellem Männlichkeitsbild lernen besser, wenn keine Mädchen dabei sind. Wichtig sei dabei allerdings, dieses Männlichkeitsbild nicht auch noch zu bestätigen.

Der Geschlechterpädagoge Sielert empfiehlt außerdem, die Schule zu „entschulen“. Er meint damit, dass die Schule sich stärker für praktische Tätigkeiten öffnen soll: „Schulen sind heute zu sehr Unterrichtsanstalten. Viel von dem, was für Kinder wichtig ist, wird in der Schule nicht berücksichtigt. Das Bedürfnis nach Bewegung und gemeinschaftlicher produktiver Arbeit wird nicht genug abgedeckt.“ Also raus aus der Schule, mehr Praktika und mehr Projektarbeit machen. Vielleicht interessieren sich dann auch wieder mehr Männer für den Lehrerberuf.