: Datensammlung ohne Grenzen
AUS STRASSBURG DANIELA WEINGÄRTNER
Eine Kulisse für „Mission Impossible“ stellt man sich anders vor. Dabei werden hier, in einem unauffälligen Betonkasten am Stadtrand von Straßburg, 16 Millionen Kriminaldaten bewacht. Der Datenspeicher steht in einer Gartenstadt mit idyllischen Häuschen und viel Vogelgezwitscher an Straßburgs südlicher Peripherie. Lediglich zwei hohe grüne Gitterzäune mit Stacheldrahtrollen und Gebüsch dazwischen lassen ahnen, dass an diesem Ort etwas Kostbares geschützt wird.
„Laufen Sie nicht über unseren Rasen! Der ist uns heilig!“, ruft Bernhard Kirch, der Hausherr, den Besuchern zu. Er lacht zwar ein wenig dabei, aber ernst ist es ihm doch. In der Welt des knapp sechzigjährigen Franzosen, der früher einmal Hauptkommissar war, herrscht Ordnung. Er ist der Chef über 35 Mitarbeiter und eine Computeranlage, deren Festplatten mancher Gauner wohl liebend gern blank putzen würde. Denn im Keller des Gebäudes lagern jene Daten, die Polizeibeamte überall in den Schengen-Staaten ins System einspeisen, wenn sie einen Vorgang von grenzüberschreitendem Interesse vermuten oder Hilfe bei den ausländischen Kollegen suchen.
Das Schengen-Informationssystem (kurz SIS) passt nicht ins Strickmuster der regulären europäischen Institutionen. Es ist nach einem Luxemburger Grenzort benannt, steht aber in Straßburg, weil sich die Regierungschefs vor zwanzig Jahren darauf geeinigt haben, den Franzosen die Regie über die Verbrecherkartei zu übertragen. Wer sich hier umsehen möchte, muss den Besuch beim Innenministerium in Paris beantragen.
Auch Island macht mit
Der „Schengen-Raum“ heißt so, weil sich 1985 die Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und den Benelux-Ländern im Luxemburger Grenzort Schengen darauf verständigten, ein Kerneuropa aufzubauen, in dem die Grenzkontrollen abgeschafft sind und nur noch die gemeinsamen Außengrenzen geschützt werden. Später schlossen sich weitere zehn Staaten diesem Verbund an, darunter auch Norwegen und Island, die nicht zur EU gehören. Großbritannien entschied sich für „Schengen light“. Das Königreich will vor allem die polizeiliche Zusammenarbeit in Europa verbessern und deshalb nur diesen Teil des Abkommens umsetzen.
Das Schengen-Informationssystem soll dafür sorgen, dass Gauner und Verbrecher sich die Reisefreiheit nicht zu Nutze machen, um unbemerkt mit einem geklauten Auto oder einem gefälschten Pass von einem Land ins andere zu verschwinden. „Man kann nicht von der Freiheit sprechen, ohne gleichzeitig von der Sicherheit zu reden“, sagt Bernard Kirch. „Beides muss sich in einem Gleichgewicht befinden.“ Eine Grafik zeigt das SIS als vielzackigen Stern. In der Mitte steht der Straßburger Server, an jeder Sternspitze das angeschlossene Computersystem eines Mitgliedslandes. Verbindungen ins Internet, die das Ganze anfällig für Hacker-Attacken machen würden, gibt es nicht. Das SIS ist ein reines Intranet.
Kirch macht an einem Beispiel klar, wie das SIS funktioniert: „Am 2. Januar gegen fünfzehn Uhr wird eine Bank in Aachen überfallen. Zwei Stunden später sind die fraglichen Banknoten im System erfasst. Am 3. Januar um neun wird in Brüssel ein Auto gestohlen und ebenfalls registriert. Gegen elf kontrollieren Polizeibeamte in Thionville eine verdächtige belgische Nummer. Die Datenabfrage ergibt, dass der Wagen in Brüssel gestohlen wurde. Im Kofferraum finden sich Banknoten aus dem Überfall in Aachen. Voilà – der Fall ist aufgeklärt“, sagt der Ex-Ermittler und lächelt, als sei ihm soeben ein Coup gelungen.
Er liebt diese SIS-Erfolgsstories. „Wenn zum Beispiel Fred P. in Lüttich aus dem Gefängnis entwichen ist“, erklärt Kirch, „dann ordnet die belgische Polizei die Überwachung seiner Freundin an. Sie wissen schon – chercher la femme“, zwinkert der Polizist. Doch Pauline ist verreist, und so wandert ein Eintrag mit ihren Daten ins SIS. In Barcelona wird sie später beim Schwarzfahren erwischt. Die Guardia civil macht eine Routineanfrage beim SIS – und schon wissen die Belgier, wo Freds Freundin steckt.
Der ehemalige Kriminalbeamte legt Wert auf die Feststellung, dass er zwar heute in Anzug und Krawatte in voll klimatisierten Räumen arbeitet, dass er aber keinesfalls den Beruf des Polizisten an der Garderobe abgegeben hat. „Ich bin und bleibe Gendarm“, sagt der Mann mit der blassen ungesunden Haut des Schreibtischarbeiters.
In seiner Heimat sei es immer noch ein sensibles Thema, dass die Schlagbäume abgebaut wurden. Schließlich betrachte doch jeder Nationalstaat das Recht auf die Kontrolle seiner Außengrenzen als Zeichen von Souveränität. Dass in Deutschland dieser Integrationsschritt kaum als Bedrohung empfunden, sondern meist mit positiven Vorstellungen wie Bewegungs- und Reisefreiheit in Verbindung gebracht wird, nimmt er sichtlich überrascht zur Kenntnis. „Warten Sie nur, bis Ende 2007 Polen dem Schengen-Raum beitritt, dann ändert sich die Stimmung in Deutschland“, sagt er mit grimmiger Zuversicht.
Für das SIS II, das noch mehr Daten, auch biometrische Angaben zur Person, erfassen soll, wird derzeit im Keller des Betonbunkers eine große Fläche freigeräumt. Das alte SIS ist provisorisch mit einem japanisch anmutenden Gitterkäfig aus Holzstäben abgetrennt worden, die einzige Tür lässt sich nur mit dem Mitarbeiterausweis öffnen. „Mein Allerheiligstes“, lächelt Kirch. Und dann, um bloß nicht als sentimental zu gelten: „Das klingt jetzt sicher ziemlich übertrieben.“
Am Konzept des neuen SIS II bastelt die EU-Kommission. Kirch macht keinen Hehl daraus, was er von den Plänen hält: „Ein monströses System denken die sich aus. So viele zusätzliche Daten, das frisst Speicherplatz. Und die Nutzer sollen direkten Zugang bekommen – das wird das komplette Chaos“, sagt er verächtlich. Europol in Den Haag hat bislang keinen eigenen Zugang zum SIS. Im neuen SIS II soll ihnen aber einer zur Verfügung gestellt werden. Und Interpol? Haben die Zugang zu den Daten aus Straßburg? „Sind das alles Gentlemen?“, fragt Kirch und erwartet nicht wirklich eine Antwort darauf. „Teilen sie alle unsere Werte? Länder wie Saudi Arabien oder die USA?“
23.400 verdeckte Überwachungen sind derzeit im SIS gespeichert. Dazu kommen die Namen von 15.000 Menschen, die mit europäischem Haftbefehl gesucht werden. 10.000 Verdächtige werden observiert. Den meisten Speicherplatz aber belegt der Kampf gegen illegale Einwanderer – 766.885 haben bereits einmal vergeblich in der EU Asyl beantragt und sollen beim nächsten Mal nicht mehr über die Grenze gelassen werden oder sind aus anderen Gründen im Schengenraum unerwünscht.
Auch in den EU-Institutionen wüssten viele nicht, dass das SIS nicht nur im Kampf gegen illegale Einwanderung eingesetzt werde, klagt Kirch. „SIS ist eine virtuelle Binnengrenze. Würde es diese Aufgabe nicht mehr wahrnehmen, könnte das nur bedeuten, dass die Kriminalität in Europa abgeschafft ist.“ Kein Wunder also, dass der Löwenanteil der 16 Millionen derzeit gespeicherten Daten sich nicht direkt mit Personen befasst. Gestohlene Autos werden ebenso erfasst wie Waffen, die bei einem Verbrechen zum Einsatz gekommen sein könnten oder Banknotennummern aus Einbrüchen. 1,8 Millionen geklaute oder verlorene Dokumente haben allein die holländischen Behörden ins System eingespeist – gemessen an der Einwohnerzahl ist das Europarekord.
Speicherzeit drei Jahre
Personenbezogene Daten werden drei Jahre lang aufbewahrt, Daten über Objekte ein Jahr. Bevor die Frist endet, erhält der betreffende Staat eine elektronische Erinnerung. Sollte der Vorgang noch aktuell sein, kann die Frist ein Jahr ums andere verlängert werden. Und der Datenschutz? Da es sich um eine zwischenstaatliche Einrichtung handelt, ist nicht der Europäische Datenschutzbeauftragte zuständig. Die jeweiligen Länder sind dafür verantwortlich, dass bei den Daten die rechtlichen Bestimmungen eingehalten werden.
Den Datenschützern bereitet der wachsende Datenberg, der sich im Rahmen der polizeilichen Zusammenarbeit im Niemandsland zwischen den Mitgliedsstaaten aufhäuft, allerdings Kopfzerbrechen. Auf der Europäischen Datenschutzkonferenz Ende April in Budapest erinnerten sie daran, „dass die bestehenden, in der EU angewandten Rechtsinstrumente des Datenschutzes zu allgemein gehalten sind, um einen wirksamen Datenschutz im Bereich der Strafverfolgung zu gewährleisten“.
Der geplante Rahmenbeschluss, der speziell den Umgang mit personenbezogenen Informationen im zwischenstaatlichen Bereich der Verbrechensbekämpfung regeln soll, müsse daher rasch verabschiedet werden. Er werde die bislang für das Schengen-Informationssystem geltenden Vorschriften ersetzen und dafür sorgen, dass bei den 500.000 Bewegungen, die täglich auf der SIS-Datenautobahn gemessen werden, die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen gewahrt bleiben.
Dem SIS stehen in der Zukunft noch mehr Änderungen bevor als ein paar neue Computer und eine Überholspur auf der Datenautobahn. Die EU-Kommission denkt über ein völlig neues Or-ganisationsmodell nach. „Es gibt mehrere Ideen, was künftig mit uns geschehen soll“, erklärt Kirch. „Man könnte uns der EU-Kommission unterstellen, Europol zuschlagen oder der neuen Grenzagentur Frontex angliedern.“ Dann lässt er durchblicken, welche Lösung er bevorzugen würde: „Die Deutschen finden, dass Frankreich hier gute Arbeit leistet. Man könnte also auch alles so lassen, wie es ist.“