Wahnsinn oder Warteschleife?

Gelingt es in Hamburg der Wirtschaft, jedem Jugendlichen ein Ausbildungsangebot zu machen? Oder brauchen wir doch eine Ausbildungsabgabe? DGB-Jugend-Chef Olaf Schwede und Handelskammer-Experte Uve Samuels im taz-Streitgespräch

Moderation: KAIJA KUTTER

taz: Herr Samuels, die Handelskammer hat vor zwei Jahren einen Ausbildungspakt unterzeichnet. Sie wollten für jeden Jugendlichen, der ausbildungsfähig ist, ein Angebot schaffen. Gelingt Ihnen das in diesem Jahr?

Uve Samuels: Ja! Alle Planungen laufen darauf hinaus. Zwischen 1.000 und 2.000 junge Menschen suchen noch. Wir akquirieren mit hohem Einsatz freie Plätze und werden bei den Nachvermittlungsaktionen allen ausbildungsfähigen jungen Leuten ein Angebot unterbreiten.

Olaf Schwede: Herr Samuels zählt nur die jungen Menschen, die von der Bundesarbeitsagentur (BA) als Bewerber anerkannt werden. Und wenn die versorgt sind, ist die Welt in Ordnung. Wir müssen auch die mitzählen, die in beruflichen Warteschleifen auf einen Ausbildungsplatz warten. Dann fehlen mindestens 5.000 Plätze.

Der Senat stimmt uns da neuerdings zu. Ich zitiere Wirtschaftssenator Gunnar Uldall (CDU), der neulich bei der Verkündung seines 1.000-Plätze-Sonderprogramms erklärte, es gebe eine Menge ausbildungsfähiger Jugendlicher in den schulischen Warteschleifen, für die keine Ausbildungsplätze da seien. Und dass es immer noch eine große Lehrstellenlücke gebe, weil das Bemühen der Kammern, ausreichend Plätze zu akquirieren, nicht reiche. Das sagt Uldall, nicht ich.

Samuels: Herr Uldall würde jetzt deutlich widersprechen. Aber er ist nicht hier und kann sich nicht wehren, darum muss ich es tun. Das Sonderprogramm richtet sich explizit an Jugendliche, die nicht ausbildungsfähig und mit massivsten Vermittlungshemmnissen belastet sind.

Aber wenn die BA diese Vorauswahl nicht träfe, müsste eine größere Zahl versorgt werden. Von 27.000 wurden ja nur 7.000 als Bewerber aberkannt.

Samuels: Das hat auch seinen Grund. Leider. Wir können viele hundert Lehrstellen jedes Jahr nicht besetzen, weil Jugendliche nicht ausbildungsfähig sind. Wir haben jetzt 1.000 Stellen unbesetzt. Den jungen Leuten fehlen oft Grundkenntnisse in Deutsch und Mathematik.

Schwede: Von 27.000 Jugendlichen, die sich Rat suchend an die BA wenden, sollen 20.000 Deutsch und Mathe nicht beherrschen? Es befinden sich heute mehr Jugendliche in Warteschleifen als in Ausbildung. Wenn die Mehrheit plötzlich nicht mehr geeignet sein soll, dann müssen Sie ihre Maßstäbe hinterfragen.

Die BA sortiert Hauptschulabgänger aus. Ist das richtig?

Samuels: Für manche Berufe ja, für manche nein. Wenn jemand mit einem durchschnittlichen Hauptschulabschluss Mediengestalter oder IT-Experte werden will, geht das auseinander. Wenn er sich durch Praktika an den richtigen Berufen orientiert, dann hat er Chancen.

Schwede: Junge Leute haben manchmal falsche Vorstellungen. Aber Sie haben ja selbst nach Ihren Zahlen zu wenig Plätze. Wenn 1.000 Stellen frei sind, und 2.000 suchen, dann fehlen welche.

Wieso bleiben Plätze frei?

Schwede: Das sind oft Lehrberufe, die ein schlechtes Image haben oder bei denen es mit der Ausbildungsqualität hapert.

Samuels: Sollen Bankenberufe etwa ein schlechtes Image haben?

Schwede: Ich glaube nicht, dass die Banken ein Bewerberproblem haben.

Samuels: Die Banken haben ein Bewerberproblem.

Schwede: Die Anforderungen für Banken- und Büroberufe sind immens gestiegen. Da heißt es, es würden nicht nur Abiturienten, sondern auch Realschüler genommen. Aber es müssten welche sein, die sich auch einsetzen, politisch denken, die Organisationsgeschick besitzen und gleich noch IT-Kompetenzen mitbringen. Und das möglichst mit 15 oder 16 Jahren.

Herr Samuels, was bieten Sie diesen jungen Menschen?

Samuels: Wir bieten für die, die nicht gleich ausbildungsreif sind, eine sechsmonatige ,Einstiegsqualifizierung‘ an. Das ist keine Warteschleife, die Zeit kann auf die Ausbildungszeit angerechnet werden. Weit über 60 Prozent bekommen dadurch eine Lehrstelle.

60 Prozent von wie vielen?

Samuels: Es sind in Hamburg 370 Plätze besetzt. Das Instrument haben wir gegen den Widerstand des DGB durchgesetzt.

Eine Art Mini-Lehre?

Schwede: Eher ein staatlich bezahltes Praktikum. Diese Maßnahme löst nicht das strukturelle Problem. Es liegt nicht an der Bewerberreife. Wenn alle besser qualifiziert wären, hätten wir auch nicht auf einen Schlag die nötigen Stellen.

Laut BA-Statistik ist die Zahl der Lehrstellen seit 1994 um ein Viertel zurückgegangen.

Samuels: Das heißt nicht, dass Betriebe weniger ausbilden. Kein Unternehmen ist gezwungen, seine Lehrstelle der BA zu melden. Wir vermitteln mit unserer Online-Börse genauso viele Lehrstellen wie die Agentur.

Also gibt es so viele Lehrstellen wie 1994?

Samuels: Die Betriebe bieten zumindest so viele Stellen an wie seit Jahren nicht. Die Handelskammer hat in den letzten zehn Jahren ihre Lehrstellen um 15 Prozent gesteigert.

Schwede: Aber die Handelskammer stellt nur 70 Prozent. Wenn der Öffentliche Dienst oder kleinere Kammern Stellen abbauen, gleicht es das nicht aus.

Herr Schwede, Sie fordern jetzt eine Ausbildungsumlage innerhalb der Kammern.

Schwede: 57 Prozent aller ausbildenden Betriebe sind für eine Umlage. Und 41 Prozent der nicht ausbildenden Betriebe sagen, wenn es nicht so teuer wäre, würden sie ausbilden. Wir greifen das auf und sagen: O.K., wenn die Kosten ein Faktor sind, dann sollten wir die, die ausbilden, über eine Umlage entlasten.

Samuels: Das ist ein Wahnsinnsbürokratiemonster, das außer dem DGB wirklich niemand will. Man bräuchte einen solchen Apparat dafür, dass von den Einnahmen kaum etwas übrig bliebe. Wenn wir über die Kosten reden, dann über die Ausbildungsvergütung. Da hat der DGB zweistellige Steigerungsraten durchgesetzt, so dass die Höhe heute zur Ausbildungsbarriere wird.

Schwede: Das ist typisch Kammer. Immer auf die Jugendlichen: Die sind nicht ausbildungsreif, die verdienen zu viel. Wir versuchen mit unserer Idee einer Kammerumlage Ihren Argumenten gegen eine Ausbildungsvergütung entgegenzukommen. Fehlsteuerung, Verstaatlichung, Bürokratie. Wir machen einen Vorschlag, der diese Kritik berücksichtigt. Wir brauchen keine neue Bürokratie. Die Behörde zum Einzug dieser Umlage ist Ihr Haus.

Samuels: Wir sind keine Behörde, sondern Dienstleister für die Hamburger Wirtschaft. Und in deren Interesse lehnen wir eine solche Bürokratie ab.

Schwede: Sie ziehen bereits jetzt Beiträge ein und wissen, welche Firmen ausbilden. Das könnte man in Hamburg mit sehr wenig Leuten machen. Es ist typisch, dass dieser Reflex kommt. Sie hören das Wort ,Umlage‘ und schon kommen die Scheuklappen: „Um Gottes Willen nicht mit uns.“ Statt zu sagen, wir gucken es uns an, vielleicht ist es ja eine sinnvolle Idee.

Samuels: Wir unterstützen die ausbildenden Betriebe in hohem Maße operativ. Das kostet Geld, das alle Kammermitglieder zahlen, darüber findet schon ein Solidarausgleich statt. Die Ausweitung ist sehr kritisch, weil nur 9.000 unserer 130.000 Mitglieder ausbilden dürfen. Die anderen zu belasten, wäre ungerecht.

Schwede: So, wie es jetzt läuft, ist es ungerecht für die Jugendlichen. Sie sagen ja, es findet schon ein Solidarausgleich statt. Den wollen wir mit der Umlage nur etwas verstärken.

Hat die Kammer eine Alternative?

Samuels: Wir fordern seit Jahren niederschwellige Ausbildungsberufe. Wir haben ein Paket von 100 Berufen geschnürt, die es geben könnte, zum Beispiel im Service- oder Zulieferbereich. Einige der höher qualifizierten Berufe haben wir bekommen, im niedrigeren Segment blockiert die Zulassung der DGB.

Schwede: Das stimmt nicht. Darüber entscheidet inzwischen allein das Wirtschaftsministerium. Und wenn das einen Beruf für nicht zukunftsträchtig hält, hat es seine Gründe. Einige Berufe, ich glaube im Kurierbereich, wurden ja zugelassen.

Samuels: Das sind anspruchsvolle Berufe, Hightech pur.

Schwede: Na, es gab auch die Garderobenfachkraft.

Was halten Sie von der Forderung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, neue vollschulische Ausbildungsgänge zu schaffen und mit einer Kammerprüfung zu versehen?

Samuels: Das wäre nicht gut, da sind DGB und Kammer ausnahmsweise einig.

Schwede: Wir halten das für nur die zweitbeste Lösung, weil die Betriebe nicht aus der Verantwortung entlassen werden sollen. Prinzipiell halten wir das für eine Möglichkeit, damit die Bugwelle abzubauen.