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Archiv-Artikel

Traumsucher am Strand

BRASILIEN Es gibt ihn immer wieder neu: den Traum vom Aussteigerleben

Utopien

■ Die ungekürzte Fassung dieses Textes erscheint heute im Buch „Völlig utopisch – 17 Beispiele einer besseren Welt“. Herausgeber Marc Engelhardt, Pantheon Verlag, 240 Seiten, 14,90 Euro

■ Piracanga: Anreise über Salvador da Bahía, Flug z. B. von Frankfurt nach Salvador mit Condor um 680 Euro. Weiter mit dem Bus bis Itacaré (ca. 5 Stunden, 15 Euro) oder Flug nach Ilheus (1 Stunde, ab 50 Euro z. B. www.voeazul.com.br). Transfer von Ilheus oder Itacaré nach Piracanga über die Kommune buchbar (45 bzw. 50 Euro). Aufenthalt: um 50 Euro im Doppelzimmer mit Vollpension im veganen Restaurant. Aura-Reading, Reiki, Engelgespräche und andere Anwendungen vor Ort buchbar. Allgemeine Informationen unter www.piracanga.com

VON CHRISTINE WOLLOWSKI

Wenn mir vor zwei Jahren einer gesagt hätte, ich würde einmal in einer Kommune leben – den hätte ich für verrückt erklärt“. Peter Winter lacht, ein bisschen auch über sich selbst. Dann sagt er: „Jetzt lebe ich in einer Kommune, anders kann man das ja kaum nennen.“

Peter ist groß und grauhaarig, hat blaue Augen und ein Bäuchlein. Er trägt Bermudas und Turnschuhe – während die meisten hier in selbst genähten Gewändern und barfuß unterwegs sind. Der 56-jährige Österreicher war in Portugal im Finanzbereich einer Eventagentur tätig. Jetzt lebt er in der Inkiri-Gemeinschaft in Piracanga und wacht morgens mit Vogelgesang und dem Rauschen des Windes in den Palmwedeln auf. Statt einer eigenen Wohnung bewohnt er ein Schlafzimmer in einem geliehenen Haus. Um sieben Uhr morgens stapft er über einen Sandpfad ins Büro, das er in einer Kammer neben der Gemeinschaftsküche eingerichtet hat.

Wer nach Piracanga kommt, landet in einer Szenerie, die man sich zur Illustration des Paradieses kaum besser erfinden könnte. Der türkisblaue Atlantik trifft weiß schäumend auf den goldgelben Sandstrand, parallel zur Küste fließt gemächlich ein breiter, seichter Fluss. Am Flussufer stehen Cashewbäume und Kokospalmen, wachsen Bromelien und Hibiskus. Sandpfade verbinden eine Handvoll mit Palmwedeln gedeckte Gebäude. Entspannte junge Menschen und Kinder liegen im Sand oder baden im Fluss. Niemand erhebt die Stimme. Kein Schimpfwort ist zu hören.

Grundlage der Inkiri-Gemeinschaft ist die Idee, dass jeder Mensch auf der Welt ist, um seinen von Gott gewollten Traum zu verwirklichen. Die meisten Menschen kennen ihren Traum nicht, da sie nicht mit dem göttlichen Anteil ihres Selbst in Verbindung stehen, glauben die Inkiri. Täten sie das, würde das menschliche Zusammenleben friedlicher, glücklicher und erfüllter.

Angelina, Portugiesin und Gründerin der Kommune, leitete mit ihrem Gefährten Gabriel ein ganzheitliches Heilungszentrum an der Algarve, als sie vor mehr als zehn Jahren von einem Strand, einem Fluss und Palmen träumte – und spürte, an diesem Ort würde sie ihre Idee vom spirituell erweckten Leben in einer Gemeinschaft verwirklichen. Jahre danach reiste sie durch Brasilien, um sich irgendwo niederzulassen. Irgendwann fuhren sie mit einem Boot übers raue Meer bis an einen Strand. „Und dann bin ich in Tränen ausgebrochen“, sagt Angelina, „denn das war der Ort aus meinem Traum!“

„Manche glauben wirklich, allein mit ihrem Beispiel die Welt verändern zu können“

DANIEL, MUSIKER

In Piracanga soll jeder tun, wovon er träumt. Die freie Schule ist der Traum von Ivana aus Uruguay. Ein Spezialist für nachhaltige Waldnutzung leitet ein Aufforstungsprojekt. Und ein Fotograf kümmert sich um den Abtransport des irdischen Mülls. Bei einem Leben direkt am Strand, in einem Landstrich, in dem es nie kälter wird als 18 Grad, scheint man das Paradies leichter zu finden als anderswo.

Etwa 80 Menschen leben in Piracanga, das Lesen von Auren ist ihr zentrales Werkzeug – um ihren Traum zu erkennen, für die eigene Entwicklung, das Lösen von Konflikten, die Entwicklung der Gemeinschaft. Amélia macht es vor. In einem weiß gestrichenen Raum setzt sich die dunkelhaarige Frau etwa einen Meter vor ihr Gegenüber, schließt die Augen und konzentriert sich. Jetzt wird sie den Energiekörper erspüren, der den materiellen Körper farbig leuchtend umgibt. „Ich sehe eine Rose“, sprudelt es aus ihr heraus, dann geht es um Arbeit, Partnerschaft und das Verhältnis zu sich selbst. „Ich übersetze nur“, sagt sie, „was dein höheres Selbst dir zu sagen hat.“ Dessen Botschaften können so vage sein, wie „Konzentriere dich im Beruflichen auf das Positive!“, oder konkret, wie „Verschwende nicht deine Energie, um dich mit deiner Ex zu treffen!“. Nachdem Amélia eine Stunde zu ihrem Gast über dessen Innerstes gesprochen hat, läuft sie über den Sandpfad davon.

Die innige Verbindung beim Aura-Lesen ist heute eine Besonderheit der Inkiri-Gemeinschaft, sagen deren Mitglieder. Anfangs war in Piracanga eine Art Luxuswohnprojekt in exklusiver Strandlage entstanden, das mit spiritueller Suche nicht viel zu tun hatte. Wie in jedem Dorf blühten Intrigen – bis sich die Ecovila 2011 in zwei Gruppierungen gespalten hatte: Die eine bestand aus dem Kreis um die Gründerin, die andere aus dem Rest. Dann gründeten die einen die Kommune Inkiri und beschrieben deren Ziele in einem Buch mit dem Titel „Willkommen in der neuen Welt“. Darin leben alle glücklich, tanzen, singen und genießen das Leben. Eine der Autorinnen ist Amélia, die Aura-Leserin. Die 36-Jährige aus Rio de Janeiro hatte 2009 mit ihrem Freund einen Tag in der Ecovila verbracht und reiste ab, weil ihr „alles zu abgelegen war“. Nach 30 Kilometern drehten sie um. Seitdem leben sie in der Kommune. „Nichts ist mehr, wie es war – nur mein Freund ist derselbe.“ Amélia lacht. In Rio war sie Mitinhaberin einer Eventagentur und irgendwie unzufrieden. Jetzt sagt sie: „Bei meinem ersten Aura-Reading-Kurs habe ich gemerkt, dass ich das den Rest meines Lebens machen will.“ Dafür nahm sie Jahre ohne Kühlschrank in Kauf, weil die Solarenergieanlage nicht genug Strom lieferte. Die schwankende Internetverbindung. Die endlosen Arbeitstage, weil ständig neue Events zu planen sind.

Über Schattenseiten von Piracanga möchte kaum jemand sprechen. Eine Ausnahme ist Daniel, Musiker aus dem Süden Brasiliens, der einen Ort zum Leben für sich und seine Familie suchte. Sie mieteten sich ein Häuschen, wurden zu Abendessen und Vollmondfeiern eingeladen und fühlten sich schnell zu Hause. „Manche glauben wirklich, allein mit ihrem Beispiel die Welt verändern zu können“, sagt der 32-Jährige heute. „Aber bald haben wir gemerkt, dass unter der strahlenden Oberfläche viele Reibereien gärten.“ Allerlei Undurchsichtigkeiten hat Daniel ebenfalls entdeckt. Etwa, dass die Privatfinanzen der Gründer mit denen der Firma vermischt seien, die das Zentrum betreibt. Was für den Vater besonders schwer wog: „Die Freie Schule verfolgt die pädagogische Linie nicht, die sie angeblich inspiriert. Sie ist vor allem ein Ort, an dem man seine Kinder abgeben kann, um an Kursen teilzunehmen.“ Die Inkiri-Kinder lernten nicht einmal Lesen und Schreiben, heißt es in den umliegenden Orten. „Zum Leben in der Normalität sind die gar nicht in der Lage“, schimpft eine Anwohnerin. „Unsere Kinder werden nicht in Schablonen gepresst“, hält Schulleiterin Ivana dagegen. „Sie lernen so spielerisch lesen, dass wir gar nicht merken, wie das vor sich geht!“

Wer nach Piracanga kommt, landet in einer Szenerie, bestens zur Illustration des Paradieses geeignet

Untätig oder uninteressiert wirkt niemand im spirituellen Dorf. Haben sie alle ihren Traum gefunden? Peter kümmert sich auch hier um Finanzen und Organisation. Wie er in Portugal war, ist schwer zu sagen, hier lacht er mehr, als bei einem Verwalter zu erwarten ist. Bis heute beschäftigt er sich öfter mit Handy und Internet als mit Vorträgen zur Entwicklung der Selbsterkenntnis. „Ich war mit Angélina und Gabriel befreundet“, erzählt er, „und besuchte die beiden in Brasilien.“ Für ein, zwei Monate machte er Ferien am Ende der Welt. Dann bot ihm Angélina einen Job in der Verwaltung an. Für ein Jahr würde es in Brasilien wohl auszuhalten sein. Peter redet nicht mehr von Abreise. Obwohl die Kommune einen bescheidenen Einheitslohn eingeführt hat. Peter rechnet vor: Er zahlt keine Miete. Das Mittagessen ist gratis, und „fürs restliche Essen brauche ich 20 Prozent meines Einkommens“.

Wie alle Neuzugänge hat Peter den Prozess durchlaufen: ein 14-tägiges Retreat in Hütten am Strand, bei dem die Leute keine Nahrung zu sich nehmen. Die Inkiri glauben: Durch den Prozess kann der Körper Krankheiten verbrennen und der Mensch erkennen, welches sein Traum und wie dieser zu erreichen ist. Einmal täglich sprechen die Prozessierenden mit dem geistigen Führer über ihre Erlebnisse. „Ich habe mir für jeden Tag des Prozesses ein Buch mitgenommen“, erinnert sich Peter und lacht wieder. „Ich konnte mich nicht anders allein beschäftigen. Gelesen habe ich nur eineinhalb Bücher.“

Am späten Nachmittag färbt die sinkende Sonne den Fluss golden. Zwischen Cashewbäumen sind auf einem Holzdeck Sitzkissen verteilt, zwei Mädchen verkaufen das halbgefrorene Mus aus der Acai-Palmfrucht und Vollwert-Schokoladenkuchen. Während es dämmert, füllt sich das Deck. Ein paar Kinder klettern auf den Tisch, die Erwachsenen unterhalten sich gedämpft, die Stimmung wirkt friedlich und entspannt. Nebenan beginnt in der Rundhütte ein Workshop zum Thema Aura-Reading.