: Aggressive Trauer
VOLKSBÜHNE Mit Tschechow im Doppelpack und Kathrin Angerer als monströses Mütterchen Russland meldet sich Frank Castorf zurück
Nach Moskau sehnten sich Anton Tschechows „Drei Schwestern“, fort aus ihrem unerfüllten Leben in einer russischen Gouvernementsstadt. Und nach Moskau sehnte sich bald nach der Uraufführung des Stücks im Jahr 1901 auch das internationale Proletariat: in die Zentrale der siegreichen Oktoberrevolution von 1917 nämlich, die mit Gewalt jene Umstände herbeiführen wollte, in denen ein besseres Leben möglich ist. Dass es oft besser war, sich nur nach Moskau zu sehnen, statt tatsächlich dort hinzugelangen, das erlebten später nicht nur viele kommunistische Emigranten, die in den 30er Jahren im Zuge der stalinistischen Säuberungen nach ihrer Flucht vor dem Faschismus in Moskau ermordet wurden. Auch Olga und Tochter Irina aus Tschechows Erzählung „Die Bauern“ machen die bittere Erfahrung, dass das in der Provinz erträumte Leben in der Hauptstadt in Wahrheit ein äußerst bitterer Existenzkampf mit ungewissem Ausgang ist.
Stück und Erzählung hat Frank Castorf in seiner jüngsten Inszenierung „Nach Moskau! Nach Moskau!“ gegeneinandergehalten. Utopie und Praxis sozusagen, Terror und Traum. Tatsächlich kam die Inszenierung in Moskau heraus, wo Castorfs Stil als Überraschung erlebt wurde, und tingelte über die Festwochen Wien, bevor die Berliner Volksbühne ihre Spielzeit damit eröffnete.
Der Bühnenbildner Bert Neumann hat die beiden Welten dicht nebeneinander gebaut: rechts eine Holzterrasse, auf der das gelangweilt blasierte Provinzpersonal sitzt, dessen Hunger nach Sinn immer unstillbarer wird. Links eine baufällige Baracke mit Bullerofen und schäbigen Matratzen, in der sich allerlei Lumpenproletariat drängelt und keinen Weg aus der Misere findet. Da hilft auch nichts, dass einer mal mit der roten Fahne wedelt, Heiner Müller oder Stalin zitiert. Auf dem Ofen thront meist die alte voluminöse Babka, was auf Russisch so viel wie Großmütterchen heißt. Sie trauert den geordneten Zeiten der Leibeigenschaft nach, wo man zwar nicht frei, aber satt gewesen ist. Bärbel Bolle spielt dieses Gespenst der Vergangenheit mit aggressiver Trauer und schaut biestig unter ihrer Wollmütze hervor. Hinter sich hat sie eine enorme LED-Tafel, die nicht nur den Text auf Kyrillisch, sondern eben auch die Protagonisten überlebensgroß heranzoomt.
Manchmal rauschen die Schwestern in wallenden Gewändern fremd und klassenfeindlich durchs Gebälk der Proletarierhütte. Gigantisch droht im Bühnenhintergrund ein antiillusionistischer, grob gepinselter Landschaftsprospekt, vor dem die vergrößerten Porträts auf den LED-Tafeln umso gespenstischer wirken. Und so mäandert der Abend dahin. Mal die drei Schwestern, fast wie vom Blatt gespielt, dann Dekonstruktionen aller Hoffnung auf Verbesserung im Holzverhau links daneben.
Man ahnt immer wieder die Botschaft: Handeln ist ebenso wenig das Ticket zur Utopie wie das tatenlos sehnsüchtelnde Träumen von besseren Zeiten. Darin, den Abgrund dieser unlösbaren Ambivalenz gelegentlich aufzureißen, besteht die Größe dieses Abends, dessen Erkenntnisse und Highlights man sich allerdings immer wieder quälend ersitzen muss. Beispielsweise die Auftritte von Kathrin Angerer als in Tracht gewandetes Provinzkind, das in den Drei-Schwestern-Haushalt durch Heirat mit dem Bruder Einzug nimmt und sich im Laufe des Abends zum monströsen Mütterchen Russland im Manga Format aufbläst. Lasziv, bösartig und mit einem einmaligen Sinn für Tempo bewegt sie sich durch den Abend. Andere Highlights kommen von Margarita Breitkreiz als junge Witwe Olga (aus „Die Bauern“), deren Kraft zur Selbstaufgabe und Erniedrigung einen immer wieder für Momente im Theatersessel gefrieren lässt. Und nicht zuletzt finden Altstars des Hauses wie Milan Peschel als desillusionierter Werschenin-Kaspar oder Bernhard Schütz, Silvia Rieger und Michael Klobe wieder zur alten Form.
ESTHER SLEVOGT
■ „Nach Moskau, nach Moskau“, 24. Sept. und 8. Okt., 19.30 Uhr