: Weichenstellung in Afghanistan
Wenn der Wiederaufbau am Hindukusch erfolgreich sein soll, muss der Westen aus den Fehlern der vergangenen Jahre lernen. Vielfach bewirken die Geberländer das Gegenteil
Der Wiederaufbau in Afghanistan ist an einem kritischen Wendepunkt. Zivile wie militärische Bemühungen stoßen auf zunehmenden Widerstand in der Bevölkerung. Die gewaltsamen Unruhen Ende Mai in Kabul haben ihre Ursache nicht nur im rambohaften Auftreten von US-Militärs. Junge Afghanen haben keine Perspektive. Sie werden manipuliert von Politikern, denen es gelingt, ihre Unzufriedenheit zu schüren. Deren Unmut wendet sich dann auch gegen versickernde Millionenbeträge aus der Entwicklungshilfe, wendet sich gegen zu rasche Demokratisierung und gegen selbstherrliches Auftreten von Ausländern.
Dazu kommt: Viele, die das Land modernisieren wollen, kommen mit dem Gestus einer kulturellen Überlegenheit daher. So hört man, dass die in den zuständigen Bundesministerien sich immer dann empören, wenn die afghanische Regierung selbst Forderungen aufstellt. Zudem ist die Demokratie bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen der letzten beiden Jahre von oben nach unten verordnet worden. An der Basis, in den Dörfern, reibt sich die politische Neuausrichtung an traditionellen Wertvorstellungen. Bestehenden Schura-Versammlungen, zum Teil jahrzehntelang bewährt, werden im Eiltempo Gender-orientierte neue Gremien zur Seite gestellt. Das Ergebnis ist eine Konfrontation der Kulturen.
De facto ist Afghanistan zu einem Protektorat der Vereinigten Staaten und der Vereinten Nationen geworden. Kritiker sprechen auch von einem Umerziehungslager. Über 80 Prozent des afghanischen Haushalts liegt in den Händen fremder Mächte. Die meisten der für die afghanische Wirtschaft und Politik relevanten Entscheidungen werden von Organisationen und Ländern wie den USA, der UNO, der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds getroffen.
Der afghanische Staat hat zurzeit auf die Vergabe von höchstens 25 Prozent der Entwicklungshilfegelder Einfluss. Das schafft Frustration. Mehr Mitsprache würde die afghanische Regierung und das frisch gewählte Parlament in den Augen der eigenen Bevölkerung glaubwürdiger machen. Dass die Geberländer die Oberhand über die Hilfsgelder behalten, begründen sie mit der weit verbreiteten Korruption in Afghanistan.
Korruption und Missmanagement sind aber auch unter den internationalen Akteuren verbreitet. Die frisch gewalzte Schnellstraße zwischen Kabul und Kandahar, ein US-Prestigeprojekt, ist bereits nach zwei Jahren wieder reparaturbedürftig. Sie wurde mit der billigsten aller möglichen Teermischungen gebaut. Hier wie bei anderen Großprojekten wurden beträchtliche Summen durch westliche Beraterfirmen zweckentfremdet. Sie flossen stattdessen für Gehälter und Komfortwohnungen von Spitzenpersonal.
Die internationalen Akteure sind auf einem Auge blind, meint ein Beobachter, der seit kurzem in Kabul eine private Organisation zur Korruptionsbekämpfung leitet. Sein Fazit: Die Geberländer haben sich bisher nicht ausreichend um Korruptionsbekämpfung gekümmert.
Der afghanische Volksmund sagt, die internationalen Firmen seien korrupter als die afghanischen, weil sie nur vorübergehend im Land seien, zudem oft von sämtlichen Steuern befreit und auf schnellen Profit aus, bevor sie wieder abzögen. Dafür gibt es Beispiele. In Afghanistan gilt bekanntermaßen ein „state of impunity“, ein Zustand der Straffreiheit. Dies zieht windige Geschäftsleute an.
Nur ein geringer Teil der Hilfsgelder verlässt tatsächlich die Geberländer. Gehälter, Verwaltung und Materialanschaffungen der staatlichen und halbstaatlichen Entwicklungshilfe verschlingen große Summen. Umso wichtiger sind Effizienz und Transparenz. Die afghanische Regierung behauptet, dass viele Hilfsprojekte den Prioritäten der Bevölkerung nicht Rechnung tragen. Es liegt an den Geberländern, den Vorwurf zu entkräften.
Zu wenig ist in den vergangenen Jahren in die verarbeitende Industrie investiert worden. Solange Afghanistans Wirtschaft militärisch von seinen Nachbarn Iran und Pakistan abhängt und westliche Konzerne hier ihr Geschäft machen können, bleibt das Land ein Spielball fremder Interessen. Forcierte Modelle von Frauengleichberechtigung hätte vor nicht allzu langer Zeit vermutlich selbst konservative Landstriche in Europa überfordert. Die schubartig injizierte Modernisierung hat auch eine schleichende Zerstörung afghanischen Bewusstseins und Selbstwertgefühls zur Folge.
Jetzt muss eine Kehrtwende in der Entwicklungspolitik her: Sie sollte auf dem Gedanken der Gleichberechtigung, der Afghanisierung der Hilfe und eines langfristigen Engagements beruhen. Ein Teil der Gelder muss dringend umgeschichtet werden. Die afghanische Regierung braucht mehr Geld für die Besoldung von Polizei und Armee. Ansonsten laufen ihr die Beamten weg. Für die Taliban wäre das ein gefundenes Fressen.
Auch für die Anti-Drogen-Politik und die Bekämpfung des Opiumanbaus gibt es nach einhelliger Meinung keine Patentrezepte. Umso ehrlicher wäre es, Präsident Karsai und seiner Regierung nicht einseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben. Auch der Westen hat Fehler gemacht. Die gewaltsame Zerstörung von Feldern hat nur Sturm geerntet. Jeder radikale Ansatz treibt die Bauern eher in die Arme der Gegner. Bis alternative Lebensgrundlagen die Einkommensverluste des Mohnanbaus ausgleichen, werden Jahre vergehen. Rückschläge sind nicht auszuschließen, ja wahrscheinlich. Das gilt für auch für den Kampf um einen liberalen Rechtsstaat. Wichtig ist, den Wettstreit für mehr Moderne nicht als Mission der Rechthaberei zu verstehen (noch dazu mit der Stoppuhr in der Hand).
Ohne Sicherheit werden alle Anstrengungen nicht fruchten. Der Süden Afghanistans ist die derzeit größte Unbekannte. Für die Nato sind die Folgen ihres ersten und größten Kampfauftrages außerhalb Europas noch nicht abzusehen. Es drohen hohe Verluste und eine Vermengung der verschiedenen Aufträge. Die strikte Trennung zwischen dem Mandat der US-geführten Koalitionskräfte, die Jagd auf Taliban und auf vermeintliche Terroristen machen, und der Isaf-Mission, die bisher eher als weltoffener Polizist für Sicherheit und Wiederaufbau gesorgt hat, verschwimmt mehr und mehr. Die Isaf wird damit amerikanischer. Darin liegt eine potenzielle Gefahr für Leib und Leben deutscher Soldaten.
Je konkreter der Kampfauftrag, desto größer auch das Risiko, als Besatzer wahrgenommen zu werden. Isaf-Soldaten gehen in Kabul schon seit Jahren keine Fußpatrouillen mehr. Dadurch wächst die Distanz zur afghanischen Bevölkerung. Statt realer Kontakte findet eine Entfremdung statt. Wenn die Sicherheitslage sich nicht rasch verbessert, könnten Entfremdung und Unzufriedenheit unter den Afghanen sogar weiter um sich greifen. Die ausländischen Streitkräfte drohen sich dann in Afghanistan möglicherweise in ähnliche Fallstricke zu verheddern wie die Sowjetunion in den Achtzigerjahren. MARTIN GERNER