: Die Erweiterung des Hier und Jetzt
BÜCHER Per Leo, Katja Petrowskaja, Sasa Stanisic: Die literarischen Außenseiter erobern das Feld. Von Langweile, wie sie der deutschen Gegenwartsliteratur unterstellt wurde, ist dort keine Spur zu finden. Ein Überblick zur morgen beginnenden Leipziger Buchmesse
VON DIRK KNIPPHALS
Der Schriftsteller Philip Roth ist kürzlich in einem Interview gefragt worden, warum die Nachkriegsgeneration US-amerikanischer Autoren – Saul Bellow, John Updike, E. L. Doctorow, Don DeLillo, Thomas Pynchon, Philip Roth selbst und viele andere mehr – so besonders fruchtbar für die Literatur sein konnte. Es ist auch für die Zusammenhänge der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur interessant, in seine Antwort hineinzuhören.
Philip Roth ziert sich erst, wie sich das gehört. Aber dann legt er los. Sein Erklärungsansatz lautet im Kern: ästhetische Freiheit. Unter diesen Autoren habe Gleichgültigkeit gegenüber theoretischen Vorgaben geherrscht, gegenüber „Ismen und ihre Humorlosigkeit“. Von politischer Verantwortlichkeit habe sich ihr Schreiben ferngehalten. Es habe keine feststehende Schule, wie zu schreiben sei, gegeben. Und von der Tatsache, dass Schriftsteller „neun Zehntel der Bevölkerung verdammt wenig bedeuten“, ließen sich diese Autoren nicht verletzen. Im Gegenteil. „Das hat etwas Berauschendes.“
Wie immer man zur US-Nachkriegsliteratur im Besonderen und zur Freiheit im Allgemeinen steht: Die Antwort bildet einen aufschlussreichen Kontrast dazu, wie hierzulande immer mal wieder über Literatur nachgedacht wird. Oft wird in Deutschland eben gerade nicht nach Freiheit und was aus ihr folgt gefragt, sondern eher nach Notwendigkeiten für Literatur gesucht. Sie soll, heißt es, die Gegenwart (was immer das sein soll) erfassen. Sie soll dieses oder jenes Thema behandeln oder wenigstens covern (Krise, Migration). Oder sie soll durch die Kraft ihrer Form oder Sprache ganz aus der Gegenwart herausführen.
Suche nach Legitimierung
Auch Maxim Billers Generalabrechnung mit der Migrantenliteratur neulich in der Zeit, die für so viel Aufsehen gesorgt hat, fußte im Kern auf einem rigiden Moralismus. Die Qualität von Literatur bemaß er einzig an ihrer gesellschaftlichen Wirkung. Literarisches Spiel erhielt sofort den Anstrich von Verrat an der Sache und von „Onkel-Tom-Literatur“. Gerechtfertigt ist für Biller offenbar nur ein Schreiben, das wie eine Bußpredigt funktioniert.
So eine Suche nach Legitimierungen bildet ein ganz anderes Hintergrundrauschen, als der Literatur Freiheit zuzugestehen und dann zu gucken, was sie daraus macht. Irgendwo machen die Legitimierungen die Literatur ein bisschen klein. Letztlich soll man in ihr nur wiederfinden können, was man vor dem Lesen auch schon so wusste. Kein Wunder, wenn dann herauskommt, dass man die Gegenwartsliteratur – wie in den vergangenen Wochen oft zu hören war – eigentlich ziemlich langweilig findet.
Aber vielleicht lässt sich diese pauschale Langweiligkeitsunterstellung auch dahingehend verstehen, dass man mit den gültigen legitimierenden Diskursen (Sprache, Gegenwartsbezug, Literarizität) nicht mehr einverstanden ist. Und es kann auch gut sein, dass die deutschsprachige Gegenwartsliteratur längst weiter ist als das Nachdenken über sie. Die, wie ich finde, interessantesten Bücher in diesem Frühjahr sind jedenfalls gerade diejenigen Romane, die sich viele erzählerische Freiheiten herausnehmen. Sie kümmern sich wenig darum, was gerade die angesagten Themen der Saison sein könnten. Sie folgen vor allem auch einer prinzipiellen Freiheit des Erzählens. Große Freiheiten nehmen sie sich nämlich gegenüber den Mustern heraus, die vorgeben, was im Allgemeinen unter einem guten Roman verstanden wird. Kurz: Die interessantesten Bücher sind die Romane, die nicht recht in das Romanschema passen wollen, im Grunde die literarischen Außenseiter.
Für Per Leos Roman „Flut und Boden“ hat das Stephan Wackwitz in dieser Zeitung bereits beschrieben (taz vom 19. 2. 2014). „Roman einer Familie“ lautet der Untertitel dieses Buches – und irgendwo ist es das auch. Es ist der Roman einer weitverzweigten Familie aus Bremen-Vegesack, ihrer Verstrickung in die Nazizeit, aber auch ihrer humanistisch-künstlerischen Traditionen, ihrer unternehmerischen Erfolge und ihres allmählichen Abstiegs, erzählt von der Enkelgeneration. Aber es ist eben kein ordentlich-realistisch erzählter Familienroman, wie die „Buddenbrooks“-Muster es vorgeben.
Jenseits der Buddenbrooks
Vielmehr erzählt Per Leo über essayistische Ausflüge, er recherchiert in den Familienarchiven, er gibt Einblicke in die geisteswissenschaftlichen Hintergründe. Und er versucht gar nicht erst, die eigene Familiengeschichte zu verkünsteln. Das Buch ist so ein schönes Beispiel dafür, was es alles zu entdecken gibt, wenn man nur zu graben anfängt, da wo man steht; und wie souverän und klug – letztlich also: wie frei – sich heute davon erzählen lässt.
Wenn man Katja Petrowskajas Roman „Vielleicht Esther“ neben Per Leos „Flut und Boden“ hält, ist man verblüfft darüber, wie gut diese Bücher bei all ihren Verschiedenheiten zusammenpassen. Sie passen ineinander wie die Bruchstücke einer zerbrochenen Medaille. Irgendwann hat sich Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, seit 1999 in Berlin, gefragt, warum sie so wenig Verwandtschaft hat. Sie hat angefangen zu recherchieren, im Internet, dann auch in Archiven in Warschau, Moskau und Kiew, und allmählich schreitet sie so erzählend die Umrisse einer weitverzweigten jüdischen Familie ab, die hineingeworfen wurde in die Schrecken und die Wirrnisse der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.
Ein Direktor einer Gehörlosenschule ist darunter. Zu Katja Petrowskajas Vorfahren gehörte aber auch ein hingerichteter Attentäter, der in den frühen 30er Jahren einen hohen deutschen Diplomaten ermorden wollte, um einen Krieg zwischen Deutschland und der damaligen Sowjetunion herbeizuführen – um diesen Attentäter hat das Familiengedächtnis selbst einen Bogen machen wollen, einer der Gründe, weshalb die Familienüberlieferungen abgebrochen sind. Der Hauptgrund dafür sind aber natürlich die Judenverfolgungen durch die Nazis. In einer ergreifenden Szene denkt sich Katja Petrowskaja in ihre Urgroßmutter hinein, deren Namen heute kein Verwandter mehr weiß – vielleicht hieß sie Esther, meint Katja Petrowskajas Vater – und die in der Schlucht von Babij Jar erschossen wurde.
Während Per Leo also die Erinnerungsräume einer deutschen Familie recherchiert, die teilweise zur Täterfamilie wurde, stellt Petrowskaja die Überlieferungen ihrer Familie erst wieder her. Über Täter- und Opferperspektiven hinausgehend, treten sie so in eine Art literarischen Dialog ein, indem sie immer auch mitbedenken, wie man heute über Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart schreiben kann. Das können sie, weil sie sich ihr Schreiben nicht von der Vergangenheit diktieren lassen, Herren des Verfahrens bleiben und sich erzählerische Freiheiten herausnehmen. „Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht“, heißt in „Vielleicht Esther“.
Der dritte literarische Außenseiter in diesem Frühjahr ist der Roman „Vor dem Fest“ von Sasa Stanisic (eine eingehende Besprechung folgt in der literataz am 12. 3. 2014). In einer so frei wie gekonnt erzählten Collage lässt Stanisic ein Dorf in der Uckermark auferstehen. Auch da ist vieles recherchiert: Erinnerungsspuren bis hin zum Dreißigjährigen Krieg durchziehen das Buch. Daneben ostdeutsche Tristesse natürlich, Dorfalltag, aber auch das Singen der Natur und Tierwelt.
Alle drei Romane schließen weite historische, geografische und gedankliche Räume auf. Ich habe mich in den vergangenen Wochen immer mal wieder gefragt, was man Maxim Billers Generalabrechnung mit der Literatur substanziell entgegenhalten könnte, auch wenn man seinen Anti-Establishment-Impuls auch immer wieder ganz erfrischend findet. Ich glaube, es ist genau dies: Maxim Biller hat eine Sehnsucht nach festgelegten Rollen innerhalb des Betriebs und verfehlt mit seinem Rigorismus prinzipiell die erzählerischen Freiheiten, die derzeit möglich sind und auf die man setzen sollte. Und es ist auch genau das, was man derzeit verpassen kann, wenn man sich – allzu beeindruckt von Langweiligkeitsthesen – nicht mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur beschäftigt. Man sollte sie nicht nach den Romanen beurteilen, die gedanklich nicht über Trendberichterstattung hinausgeht. Vielmehr kann man in ihr auf Bücher stoßen, die das Hier und Jetzt weit machen.