: Eine Frau, die gelernt hat, sich vorm Glück zu hüten
SELBSTFINDUNG Angelika Klüssendorf schreibt vom Überleben einer Selbstzerstörerin in der DDR und ihrer Rettung durch die Literatur: „April“
VON JÖRG MAGENAU
Das Erwachsenenleben beginnt mit hundert Mark Taschengeld und der Zuweisung eines Zimmers in der Wohnung einer schrecklichen alten Schachtel. Auch die Arbeit beim VEB Starkstromanlagenbau Leipzig wird ihr zugeteilt. Doch ab dann muss sie alleine sehen, wo sie bleibt. Ihren Namen, April, hat sie sich selbst gegeben, nach dem Song von Deep Purple. Er passt aber auch deshalb ganz gut, weil der April bekanntlich macht, was er will. Im vorigen Roman von Angelika Klüssendorf hieß sie nur „das Mädchen“, da hatte sie es zu einem Namen und damit zu unverwechselbarer Individualität noch nicht gebracht. Sie entkam ihrer gewalttätigen, unberechenbaren und alkoholkranken Mutter nur, indem sie jahrelang in Kinderheime gesteckt wurde und sich von dort aus in ihre kaputte Familie, zur Mutter, zum kleinen Bruder zurücksehnte.
Überhaupt ist es mit der Sehnsucht in Klüssendorfs Büchern eine merkwürdige Sache. Die Sehnsucht des Mädchens April richtet sich nicht nach dem, was andere Menschen Glück nennen würden. Sie hat gelernt, sich vor Glück und Hoffnung zu hüten, weil jede Hoffnung zuverlässig in Enttäuschung mündet. „Anfall von Glück“ hieß eine frühe Erzählung Klüssendorfs, als ob es sich dabei um eine fiebrige Erkrankung handeln würde. April hat gelernt, allem zu misstrauen, was ihr an Zuneigung, Nähe, Freundlichkeit entgegengebracht wird. Und weil sie misstraut, muss sie zerstören. Doch wie kann man so leben und lieben? Man kann es eben nicht; davon handelt dieser ziemlich ungemütliche Roman.
Er setzt ein in den späten 70er Jahren in Leipzig und endet Mitte der 80er Jahre in West-Berlin. Der Prozess der Emanzipation und Selbstfindung ist dann keineswegs abgeschlossen, kann er ja auch nie sein, er führt aber konsequenterweise über die DDR hinaus. Das liegt gar nicht so sehr daran, dass April etwas gegen den sozialistischen Staat einzuwenden hätte. Sie denkt nicht politisch, und all die Honeckerbilder an Bürowänden stören auch nicht wirklich. Aber sie will selbst entscheiden, was sie darf und was nicht, und das heißt eben auch, sich an der Ausreise nicht hindern zu lassen. Vielleicht ist der Grenzübertritt deshalb der Moment, in dem sie lernt, sich selbst anzunehmen. Aber kaum ist sie im Westen, sehnt sie sich in die DDR zurück. Nicht weil es dort besser war, sondern weil sie dort überleben konnte, ohne völlig unterzugehen. Arbeit als Sozialtherapie ohne wirkliche Verpflichtungen, Kollegen, die sich kümmern und sorgen, eine Existenz ohne viel Geld – das ging im Sozialismus nun mal leichter, war aber auch langweiliger.
Die Leipziger Jahre sind heftig und selbstzerstörerisch. April trinkt, als wolle sie sich schon damit vernichten. Ein Selbstmordversuch am Gasofen endet kläglich, sie hat es auch nur versucht, weil sie es „satt hat zu atmen“, und ebenso emotionslos kommt sie wieder zurück: „Wenn sterben genauso anstrengend wie leben ist, kann sie durchaus noch eine Weile leben.“ Sie begegnet merkwürdigen Gestalten, freundet sich mit einem jungen Mann an, der aus dem Knast kommt, sich dann aber als schwul entpuppt und einem „Meister“ verfällt, hat andere, unglücklich verlaufende Liebschaften. Sex ist eine enttäuschende Erfahrung und eher Kapitulation auf einem Kampfplatz als lusterfüllte Begegnung; es kann nicht anders sein, solange sie ihren Körper als etwas begreift, das ihr „zustößt“, als „notwendiges Übel“. Dass es Männer gibt, die sie schön finden, muss folglich auf einem Irrtum oder auf Dummheit beruhen.
Klüssendorf erzählt in unmittelbarem Präsens, immer mitten drin im Geschehen, und doch zugleich unterkühlt und in der Distanz der dritten Person. Sie schreibt sich diese Geschichten – vieles davon ist autobiografisch – gewissermaßen vom Leib und betrachtet Gefühle wie ein Insektenforscher seine Sammlung. So trostlos die geschilderten Verhältnisse auch sein mögen, April geht die Lebendigkeit trotzdem nie ganz verloren. Sie lernt einen Mann kennen, der sie liebt und mit dem sie ein Kind hat. Doch auch das Familienleben ist ihr fremd und bleibt äußerlich. Was ihr Halt und eine Richtung gibt, ist die Literatur: das Lesen und bald auch das Schreiben. Mit einer Freundin gibt sie in Leipzig eine Zeitschrift heraus, selbst abgetippt, zusammengenietet und in Kleinstauflage von Hand zu Hand weitergereicht (auch das ist autobiografisch). Sie bewirbt sich am Literaturinstitut, doch weil sie auf die Prüfungsfrage (Welche zehn Sätze sollte sich ein sozialistischer Schriftsteller über den Schreibtisch hängen?) ein leeres Blatt abgibt, wird sie nicht genommen.
Zur Schriftstellerin wird sie erst im Westen. Dieser Entwicklungsweg ist aber erst angedeutet und bleibt rätselhaft. Woher kommen diese Kraft und dieser Wille, woher die Sprache und die Ausdruckskraft? Darüber wird wohl erst ein dritter Band dieser beeindruckenden Erzählung Aufschluss geben können.