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Archiv-Artikel

die unparteiischen (6): christine labonté-roset, rektorin der alice-salomon-fh Ist die Berliner Politik gerecht?

Am 17. September wird gewählt. Die wirklichen Fragen hat die Politik ausgeklammert. Die taz stellt sie – und lässt Unparteiische antworten.

Die erste Frage lautet: Wie definiert sich politische Gerechtigkeit? Für mich kann die Antwort sicherlich nicht lauten: Gerecht ist die legale Gleichbehandlung aller im neoliberalen Verständnis. Für mich bedeutet „gerecht“ vielmehr zum einen die Schaffung möglichst gleicher Ausgangsbedingungen einschließlich des Ausgleichs von Nachteilen. Und zum anderen eine neue Bewertung sozialer, bisher nicht berücksichtigter Kompetenzen.

Um dies zu verdeutlichen, werde ich mich im Folgenden auf den Bildungsbereich beschränken. Allerdings nicht nur auf den Hochschulbereich. Denn er kann nur auf die Vorschule und Schule aufbauen, in denen in Deutschland stärker als in anderen Ländern soziale Selektion nicht etwa reduziert, sondern verstärkt wird.

Neuere Zahlen belegen, dass mehr als 40 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Berlin einen Migrationshintergrund haben. Konkret bedeutet dies, dass viele dieser Gruppen ihre Bildungskarriere einerseits mit Defiziten starten, was etwa ihre Kompetenzen in deutscher Sprache angeht. Andererseits bringen sie eine interkulturelle Kompetenz mit, die im Bildungssystem nicht als Ressource gesehen und genutzt wird. Eigentlich – und das würde gerechte Ausgangsbedingungen schaffen – muss eine frühe und gezielte Förderung beides berücksichtigen. Dies geschieht in Berlin bisher zu wenig und bleibt deshalb nicht ohne die bekannten Folgen: Kinder mit Migrantenhintergrund fallen früher aus dem Bildungssystem heraus. Ihnen fehlen die Schulabschlüsse. Damit haben sie keine Chancen auf eine adäquate berufliche Ausbildung, geschweige denn auf ein Studium.

Berücksichtigt man außerdem, dass SchülerInnnen mit Migrationshintergrund in der Regel schlechter bewertet und damit de facto zu Numerus-clausus-Fächern nicht zugelassen werden, dann schließt sich ein Circulus vitiosus.

An den Auswirkungen auf die soziale Arbeit lässt sich diese Nachteilsspirale sehr gut zeigen. Denn die in den Migrationsfamilien erworbenen Ressourcen würden für die Arbeit mit vielen Klienten und Klientinnen dringend benötigt.

Am Beispiel der Alice-Salomon-Fachhochschule mit ihren Numerus-clausus-Fächern „Soziale Arbeit“, „Gesundheit“ und „Bildung“ kann man belegen, dass eine enorme Diskrepanz zwischen den Studierenden, die aufgrund der Gesetzeslage vorwiegend nach Abiturnote zuzulassen sind, und den BewerberInnen mit Migrationshintergrund herrscht. Von den wenigen dieser Gruppe, die überhaupt die Hochschulzulassung erwerben, schaffen es wiederum noch weniger, die Numerus-clausus-Hürden zu nehmen.

Bildungspolitik ist ausschließlich Sache der Länder und die zentrale Schleuse für mehr soziale Gerechtigkeit. Wenn die Berliner Politik dies nicht anerkennt und entsprechend reagiert – und das ist bisher nur dann geschehen, wenn Probleme allzu offensichtlich wurden –, dann ist Berliner Bildungspolitik nicht gerecht. CHRISTINE LABONTÉ-ROSET

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