„Transparenz wäre angemessener“

Leon Hempel

„Ich bin nicht speziell auf Kameras gepolt. Es sei denn, ich entdecke mal ein seltenes Modell. In Budapest zum Beispiel steht vor der britischen Botschaft ein Kasten noch aus den 70er-Jahren. Das ist ein enorm großes Teil!“

Fünf Jahre nach dem 11. September reden alle von Videoüberwachung, aber was die Technik leisten kann, wissen nur wenige. Einer von ihnen ist Leon Hempel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU. Eigentlich promovierter Germanist, hat er sich im Rahmen des Forschungsprojekts Urbaneye (www.urban eye.net) mit der Ausbreitung, den sozialen Folgen und der Akzeptanz der öffentlichen Kameras befasst. Aktuell evaluiert er das Pilotprojekt zur 24-Stunden-Videoaufzeichnung der BVG.

INTERVIEW DIETMAR KAMMERER

taz: Herr Hempel,wissen Sie noch, wie Sie heute vor fünf Jahren den Tag verbracht haben?

Leon Hempel: Eigentlich wollten wir wie jedes Jahr den Geburtstag meiner Frau feiern. Wir hatten ein Fest organisiert, aber das ist dann natürlich ins Wasser gefallen.

Was hat sich in Berlin seit dem 11. September 2001 verändert?

Wenn man es mit den USA vergleicht, muss man sagen, es hätte schlimmer kommen können. Ich denke, in Berlin hat sich nicht allzu viel verändert – wenngleich es jetzt ein allgemeines Bewusstsein dafür gibt, dass da eine Bedrohung ist. Mein persönliches Sicherheitsgefühl hat sich überhaupt nicht verändert. Ich gehe nicht anders durch die Straßen als früher.

Wenn Sie ein Kaufhaus betreten oder eine Bank, achten Sie dort auf Kameras?

Nein, denn ich weiß ja, dass welche dort sind. Mir fallen natürlich Kameras auf, aber nicht mehr als jedem anderen Menschen auch. Ich bin nicht speziell auf Kameras gepolt. Es sei denn, ich entdecke mal ein seltenes Modell. In Budapest zum Beispiel steht vor der britischen Botschaft ein Kasten noch aus den 70er-Jahren. Das ist ein enorm großes Teil! Ach ja, und auffällig fand ich auch, dass in London sogar die Müllautos mit Videokameras ausgestattet sind, damit niemand heimlich seine Abfälle hinten reinwirft.

Sie sind von Haus aus Literaturwissenschaftler und haben erst im vergangenen Jahr Ihre Doktorarbeit in Germanistik vorgelegt. Wie wird man mit diesem Hintergrund zum akademischen Experten für Videoüberwachung?

Das Grund ist sehr einfach: Man muss Geld verdienen für sich und seine Familie. Begonnen habe ich als Schreiber von Drittmittelanträgen, dann war ich tätig in dem Projekt „Tele City Vision“, das sich mit der Ausbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien beschäftigte. Ich stellte mir die Frage: Wo wird die „Tele City“ real? Antwort: in der Sicherheitsinfrastruktur. Da habe ich begonnen, mich für das Thema zu interessieren. Zugleich hat sich mein Kollege, der Politologe Eric Töpfer, mit der Privatisierung von Gewalt beschäftigt. Aus unser beider Interesse ist dann der „Urbaneye“-Antrag entstanden.

In diesem Projekt haben Sie beide in Kooperation mit Kollegen aus sechs europäischen Hauptstädten die Ausbreitung von Videoüberwachung im öffentlichen Raum erfasst. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Es gibt frappierende Unterschiede im Hinblick auf die polizeiliche Überwachung. Es gibt sehr viel in Großbritannien, relativ viel in Ungarn, während Norwegen, Deutschland, Österreich oder Spanien im Mittelfeld rangieren. Schaut man jedoch auf den privaten Bereich, gleichen sich die Unterschiede wieder an. Eine Einkaufsstraße in Oslo sieht in dieser Hinsicht nicht viel anders aus als eine in London.

Als die Polizei vor Jahren begonnen hat, Videokameras im öffentlichen Raum aufzustellen, hat man sie als Mittel zur Bekämpfung von Straßenkriminalität verkauft. Davon ist inzwischen keine Rede mehr. Jetzt heißt es, man kann damit vielleicht Terroristen fangen – wenn auch nicht die Anschläge verhindern, wie meist zugegeben wird.

Wenn man feststellt, dass ein Instrument nicht so wirkt, wie man sich das erhofft hat, braucht man eben eine andere Legitimation. In der Tat war es anfänglich so, dass die kriminalpräventive Wirkung durch Abschreckung im Vordergrund stand.

Die Abschreckung von Straftätern hat nicht funktioniert?

Evaluationen haben ergeben, dass sich ein solcher Effekt unterm Strich nicht nachweisen lässt. Das kann man konkret in Zahlen ausdrücken: Wenn zuerst von mal 60, mal 80 Prozent Kriminalitätsrückgang die Rede war, dann liegt der Kriminalitätsrückgang in Wirklichkeit alles in allem bei etwa bei 4 Prozent. Das kann bei bestimmten Deliktarten wie Autodiebstählen oder in bestimmten Räumen wie etwa auf Parkplätzen, die recht übersichtlich sind, im Einzelfall ganz anders aussehen. Ein allgemeiner Kriminalitätsrückgang ist aber nicht zu verzeichnen. Im Gegenteil, in einzelnen Bezirken von London wie Tower Hamlets steigt die Kriminalität, trotz Dauerüberwachung.

Sie haben sich auch mit dem Thema Medien und Überwachung auseinandergesetzt. Wie bewerten Sie die Rolle der Medien in der aktuellen Sicherheitsdebatte?

Medien haben ihr eigenes Format. In vielen Fällen gerät man als Wissenschaftler dazu in Widerspruch, weil man sich ungern zu endgültigen Aussagen hinreißen lässt. Pauschale Fragen wie: Ist Videoüberwachung gut oder schlecht?, kann man wissenschaftlich so nicht beantworten. Die Kontexte sind viel zu komplex, sodass man sehr weit ausholen müsste. Das ist natürlich nicht im Interesse der meisten Medienformate. Außerdem machen es sich die Medien in der Darstellung von Technologie häufig zu einfach. In erster Linie wird das Funktionieren von Technik gezeigt, egal um welche es sich dabei handelt. Für Techniksoziologen spannender ist aber die Frage: Wo funktioniert sie nicht oder nicht ihren Erwartungen entsprechend?

Sie haben Aspekte der Verkehrskontrolle in London untersucht und evaluieren augenblicklich die Videoüberwachung der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Wie geht man auf der Insel mit dem Thema um und wie in Deutschland?

Unterschiedliche kulturelle Muster spielen bei der Ausbreitung von Videoüberwachung sicher eine Rolle. In Deutschland folgt man meistens der Haltung: Security by obscurity – über Sicherheitsmaßnahmen wird nicht öffentlich gesprochen. Die verantwortlichen Stellen weigern sich, Angaben zu ihren Systemen zu machen, und sie lassen einen auch nicht ohne weiteres in die Kontrollräume. Dabei wäre im Grunde genommen Transparenz viel angemessener.

Und in Großbritannien?

In Großbritannien ist der Umgang damit ein vollkommen anderer. Dort reicht die liberale Tradition immerhin bis weit ins 17. Jahrhundert zurück. Das kann natürlich zwei Seiten haben, wenn man sich immer schon auf der Seite der freien Welt glaubt und sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass diese Welt Tendenzen annehmen kann, die gegen diese Freiheit gerichtet sind. Aber Transparenz ist in Großbritannien sehr wichtig.

Was sind die Folgen?

Es gibt eine sehr hohe Bereitschaft zur Kooperation mit der Wissenschaft. Man ist sehr an Wirkungszusammenhängen interessiert, weil man ja auch merkt, dass die Erwartungen enttäuscht worden sind. Und weil Videoüberwachung sehr kostenintensiv ist. Man will wissen, wofür man in Zukunft das Geld ausgeben soll: für mehr Kameras oder mehr Personal? Da können wir inzwischen klare Antworten geben, die auf Fakten basieren.

Die meisten werden ihr Geld in die Digitalisierung der Kameras stecken wollen.

Die Digitalisierung kommt auf jeden Fall und auch die Vernetzung von Systemen. In London arbeiten die Verkehrsbetriebe und die Metropolitan Police schon lange zusammen. Alle Daten sind austauschbar, und eine eigene Abteilung kartografiert die Kriminalitätsdelikte im Verkehrsbereich. Das sieht dann sehr schön aus, rote und gelbe Brennpunkte auf Karten. Dann werden Berichte verfasst und an die Polizeidienststellen weitergeleitet. Ob oder inwiefern diese Berichte dann auch konkrete Einsatzpläne bestimmen, bleibt aber offen. Aus ersten Untersuchungen weiß man, dass die neuen Technologien meist wenig unmittelbaren Einfluss auf die tägliche Polizeiarbeit haben.

Was genau untersuchen Sie bei der BVG?

Die Aufgabenstellung lautet, die 24-Stunden-Videoaufzeichnung im Bereich der U-Bahn zu bewerten. Ist das zu kurz oder zu lang? Kann das Material Strafverfolgung und Tätersicherung anleiten? Wie wirkt sich der repressive Effekt aus? Es geht nicht um Fragen des Datenschutzes, sondern vielmehr der Organisation: Wie verändert ein Mehr an Kameras die organisatorischen Abläufe? Im Juli nächsten Jahres werden die Ergebnisse präsentiert.

Anfang Dezember organisieren Sie an der TU Berlin eine zweitägige internationale Konferenz zur „neuen Überwachung“. Worum wird es genau gehen?

Der Fokus liegt auf Überwachung als allgemeinem Phänomen, also auf Videokameras genauso wie auf DNA-Analyse, Biometrie, Datenbanken, der Kontrolle des Internet. Ein Referent wird über die Kontrollarchitektur des Olympiastadions sprechen. Wir fragen auch nach den Möglichkeit der datenschutzrechtlichen Regulierung von Überwachung. Der Kernpunkt bei alldem ist aber immer die Frage nach der Methode: Wie man die empirischen Ergebnisse, die man findet, angemessen bewerten kann.

Welches persönliche Fazit ziehen Sie aus Ihren Forschungen?

Es ist absolut notwendig, sich sehr konkret mit der Empirie der Technik zu beschäftigen, die Praxis und den menschlichen Faktor zu bedenken. Ansonsten landet man schnell bei den Grundirrtümern und Schreckgespenstern wie der Beschwörung einer totalen Überwachungsgesellschaft. Gerade die Kritiker gehen ja davon aus, dass Videoüberwachung einwandfrei funktioniere. Darin unterscheiden sie sich nicht von den Advokaten der Kameras. Mir ist jedoch daran gelegen, den Mythos von der Kontrollierbarkeit der Welt in Frage zu stellen.