Schäuble und der ruhige, lange Fluss

BUDGET Früher war der gigantische Bundeshaushalt heiß umkämpftes Terrain. Nun ruht sich die große Koalition auf der Null bei der Neuverschuldung aus. Ein paar Fragen hätten wir noch

VON HANNES KOCH

Steffen Kampeter ist ein freudvoller Typ. Sein Job als parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium macht ihm wirklich Spaß. Was andere zur Verzweiflung treibt – Zahlenkolonnen, Milliardenbeträge – für ihn ist es Rock ’n’ Roll.

Schon in der früheren Großen Koalition 2005 bis 2009 ging es darum, endlich wieder einen Bundeshaushalt ohne neue Schulden aufzustellen. Kampeter: „Ich wollte es schneller erreichen, Finanzminister Steinbrück sich etwas mehr Zeit lassen.“ Aber knapp vor dem Ziel scheiterten sie beide: Der Crash der US-Bank Lehman Brothers löste die Finanzkrise aus: Das bedeutete neue horrende Schulden auch für Deutschland.

Fast epochales Ereignis

Nun jedoch ist es bald so weit, nach menschlichem Ermessen. 2015 will Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ohne zusätzliche Kredite auskommen, also nur mit den Steuern und Gebühren, die der Bund einnimmt. Was so normal klingt, ist ein fast epochales Ereignis. Den letzten schuldenfreien Bundeshaushalt stellte eine Union-SPD-Regierung im Jahr 1969 auf.

Das ist eine echte Leistung. Aber sonst? Man hat den Eindruck: Die große Koalition ist zufrieden damit, zum Normalzustand zurückzukehren. Auf hohem Niveau legt sie die Hände in den Schoß. Sie hat nur wenige Pläne. Jedenfalls keine, die darüber hinausgehen, hier mal 2 Milliarden wegzunehmen und sie woanders hinzuschieben. Gemessen an der Größe des Etats (knapp 300 Milliarden Euro), ist das Kleinkram, der nicht richtig ins Gewicht fällt.

Frage 1: Was ist mit Gerechtigkeit? Über wenige Fragen wurde in der vergangenen Dekade so sehr gestritten wie über diese. Wie in anderen wohlhabenden Staaten sind auch in Deutschland die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen Arm und Reich gewachsen. Noch im Bundestagswahlkampf forderte deshalb die SPD höhere Steuern für Bürger, die es sich leisten können. Damit biss sie jedoch bei der Union auf Granit. Die wollte im Gegenteil Steuersenkungen durchsetzen, was im Fachjargon „Milderung der kalten Progression“ hieß. Eine Blockade war das Ergebnis.

Kürzlich nun nahm SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel einen neuen Anlauf zu der alten Forderung: Steuersenkung für kleine und mittlere Einkommen, Steuererhöhung für Reiche. Mehr Kompromissbereitschaft beim Koalitionspartner hat sich freilich kaum eingestellt. Steffen Kampeter: „Die Union war immer dafür, die Bürger und Bürgerinnen von der kalten Progression zu entlasten. Die jetzige Koalition hat andere Prioritäten gesetzt. Das Thema bleibt aber auf der Agenda. Dies durch Steuererhöhungen an anderer Stelle zu finanzieren lehnen wir ab.“ Mehr Steuergerechtigkeit in dieser Legislaturperiode? Es sieht nicht gut aus.

Frage 2: Wie steht es mit der Zukunft? Augenblicklich geht es der deutschen Wirtschaft ziemlich gut. Sie zahlt mehr Steuern, der Staat profitiert. „Aber die Infrastruktur verfällt“, sagt Katja Rietzler vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie (IMK). Verkehrswege, Datenleitungen, Bahnstrecken, Schulen und Universitäten werden nicht ausreichend repariert, sie verlieren an Wert und sind deshalb weniger leistungsfähig. Auf die Dauer kann das dazu führen, dass einheimische Unternehmen einen Nachteil gegenüber der ausländischen Konkurrenz erleiden.

Städte bleiben bankrott

„Andere vergleichbare Länder wie Frankreich, die Niederlande oder Schweden investieren deutlich mehr als Deutschland“, so Rietzler. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) müssten Wirtschaft und Staat hierzulande jedes Jahr knapp 80 Milliarden Euro zusätzlich ausgeben, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Dabei ist die Regierung nicht komplett untätig. Knapp 9 Milliarden Euro will sie bis 2017 zusätzlich für Forschung, Bildung und Infrastruktur zur Verfügung stellen. Bei Weitem aber nicht genug, meint DIW-Ökonomin Kristina van Deuverden: „Die gegenwärtigen Maßnahmen der Regierung reichen nicht, um den Substanzverlust auszugleichen.“

Frage 3: Was machen die Pleitestädte? Viele Städte sind bankrott, und zwar so bankrott, dass sie sich nicht mehr selbst helfen können. Oberhausen, Remscheid, Wuppertal, Hagen, Ludwigshafen, Offenbach und andere: Allein die kurzfristigen Kredite, mit denen solche Kommunen ihre täglichen Ausgaben bestreiten, sind inzwischen auf etwa 50 Milliarden Euro angewachsen. Außerdem beschweren sich vor allem die reichen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg darüber, dass sie die weniger begüterten Länder und damit auch die armen Städte ständig mit Milliarden Euro alimentieren müssen.

Was tut die Regierung? Demnächst soll eine Kommission eingesetzt werden. Einstweilen stellt der Bund den Ländern 9 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung, was das Problem in dieser Legislaturperiode lindert, aber nicht löst. Staatssekretär Kampeter sagt: „Gemessen am Schuldenstand pro Einwohner, stehen 13 von 16 Ländern besser da als der Bund. Die Frage, wie beispielsweise der verschuldeten Stadt Oberhausen zu helfen ist, muss deshalb vor allem die nordrhein-westfälische Landesregierung beantworten.“

DIW-Mitarbeiterin van Deuverden kritisiert diese Haltung: „Bei der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern sollte jetzt etwas passieren. Ich sehe aber die Gefahr, dass man die Chance verpasst“, sagt sie. Die Haushalts- und Finanzpolitik der Großen Koalition: ein langer, ruhiger Fluss. Bis zum nächsten Hochwasser.