: Die weibliche Deutung
Nahed Selim will den Koran der Moderne anpassen. Dazu macht sie Reformvorschläge, die in der islamischen Welt diskutiert werden
„Nehmt den Männern den Koran“. So der programmatische Titel des Buches von Nahed Selim. Die in den Niederlanden lebende Ägypterin versucht nachzuweisen, dass nicht der Islam für die Benachteiligung der Frau verantwortlich sei, sondern seine Interpretation durch Männer. Sie hätten ihn immer zu ihren eigenen Gunsten ausgelegt. Deshalb fordert sie eine „weibliche Interpretation des Islam“. Nahed Selim lehnt sich damit auf, möchte es jedoch als Muslimin und innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft tun – nicht als Außenstehende.
Heutzutage teilen sich diejenigen, die sich dem Thema „der Islam in der modernen Welt“ widmen, in zwei Lager auf. Auf der einen Seite: das Lager um Ayaan Hirsi Ali. Die Niederländerin somalischer Herkunft hatte zusammen mit Theo van Gogh den Film „Submission“ gedreht und darin die Unterdrückung der Frau durch den Islam angeprangert. Wegen der vermeintlich frevelhaften Darstellung der islamischen Religion – einer Frau waren Koranverse auf die nackte Haut tätowiert worden – befand der aus Marokko stammende Niederländer Mohammad B. van Gogh für todeswürdig und erstach ihn auf offener Straße. Seither hat sich nicht nur Ayaan Hirsi Alis Meinung über den Islam radikalisiert. Nur wer dieser Religion abschwöre, sich völlig vom Islam abwende, könne seinen Weg in die Moderne finden, sagt sie. Grund dafür sei die dem Islam wesenhafte Inkompatibilität mit all den Werten, die die Moderne ausmachten.
Diese Position vereinigt islamische Fundamentalisten und viele Westler, die meinen, es sei unmöglich, den Islam zu modernisieren. Gemeint ist die Auffassung, dass der Koran Gottes Wort ist – was kein Muslim bestreiten würde – und daher unabdingbar jede Bestimmung genau so angewendet werden muss wie dort formuliert. Nahed Selim teilt diese Meinung nicht. Man müsse sich als Muslim nicht von seiner angestammten Religion lösen, sondern diese nur den Gegebenheiten der Moderne anpassen. „In manchen Texten war der Koran reformfreudig und sogar revolutionär.“ So anfangs im Bezug auf Frauenrechte. Dieser Impuls sei wichtig, nicht das geschriebene Wort. Entsprechend versucht Salim den Gehalt der koranischen Gesetze herauszuarbeiten.
Das sei schließlich auch bisher schon geschehen: So stehe zum Beispiel im Koran, dass einem Dieb die Hand abgehackt werden muss und dass Ehebrecher gesteinigt werden müssen. Doch diese Gesetze sind in den meisten islamischen Ländern abgeschafft worden. Es steht zudem im Koran, dass man Sklaven haben darf. Doch auch die Sklaverei ist offiziell in den islamischen Ländern abgeschafft worden.
Es ist also durchaus möglich, die Gesetze des Korans zu ändern – und zwar im Hinblick auf die Veränderungen, die das moderne Leben mit sich gebracht hat. „Nur wenn es um die Regeln geht, die Frauen betreffen, dann will sie auf einmal niemand ändern.“
Mit ihrem Neuansatz zur Interpretation steht Nahed Selim in der islamischen Welt jedoch keineswegs allein da, auch wenn es uns zuweilen so scheinen mag. Viele Reformdenker versuchen einen Weg aus der gegenwärtigen Misere zu finden, versuchen die „Krankheit des Islam“ zu heilen – so ein Buch des Schriftstellers Abdelwahab Meddeb. Selims Ideen sind vielversprechend und werden in der islamischen Welt gehört. Zwar nehmen wir sie noch nicht oder nur kaum wahr. Doch das heißt nicht, dass um Modernität und Aufklärung in der islamischen Welt nicht gestritten würde. Dafür steht nicht zuletzt Nahed Selim. KATAJUN AMIRPUR
Nahed Selim: „Nehmt den Männern den Koran. Für eine weibliche Interpretation des Islam“. Aus dem Niederländischen von M. Müller-Haas und T. Hauth, Piper Verlag, München 2006, 336 Seiten, 19,90 Euro