„Du musst es nicht mehr lesen“

Die Tageszeitung „Libération“ entstand als Kollektivprojekt aus der Dynamik der Pariser Studentenproteste von 1968. Sie stieg auf zur gesellschaftlich wichtigsten Zeitungsgründung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun steckt das Blatt in einer schweren ökonomischen und zudem in einer Sinnkrise. Daniel Cohn-Bendit, Anführer der Mai-Revolte und seit Beginn leidenschaftlicher Leser der Zeitung, über das Gestern, das Heute und ein mögliches Morgen von „Libération“

INTERVIEW PETER UNFRIED

taz: Herr Cohn-Bendit, ist die 1973 als antiautoritäre Alternative zum Mainstream gegründete Tageszeitung Libération womöglich ein Ein-Generationen-Projekt, das sich dem Ende zuneigt und mit den 68ern hinter den Nebeln von Avalon verschwindet?

Daniel Cohn-Bendit: Wer sind „die“ 68er? Mit dem Begriff muss man aufpassen. Sind das die Lehrer, die Hippies, die Journalisten? Sagen wir so: Libération hat lange die Wege von bestimmten Individuen geprägt. Am Ende sind es dann ein paar, die stellvertretend dafür stehen. Und Serge July …

der von Mehrheitsaktionär Rothschild geschasste Mitgründer und erste Journalist von Libération …

… ist so gesehen der Inbegriff der Wege, der Irrwege und des sich neu Erfindens von Individuen, die 1968 den Durchbruch geschafft haben.

Gängiges Klischee über ihn: Vom Maoisten zum Salonlinken. Wahr?

Ach, er war vieles. Erst Filmkritiker, dann Kommunist, später Maoist, als er mit Sartre Libération gegründet hat. Dann mutierte er zum Liberal-Libertären mit modernen Kapitalismusansätzen. Er wurde ein widersprüchlicher Begleiter der gesellschaftlichen Entwicklung, ein weitsichtiger, pointierter Analytiker der französischen und globalen Realität, auch mal mit grandios unsinnigen Interpretationen.

Zum Beispiel?

In der Analyse der Machtübernahme von Chomeini im Iran als sozialrevolutionäre Emanzipation der Region. Aber July und andere haben die Zeitung geprägt und die französische Zeitungslandschaft revolutioniert, in der Analyse auch des Alltäglichen. Sie behandelten immer den gesellschaftspolitischen Aspekt. Und sie haben sogar die Sportberichterstattung revolutioniert. Und sie haben natürlich Positionen hinterfragt in der Politik. Und das ist, wenn man so will, mit den Jahren im Nebel von Avalon verschluckt worden. Deshalb ist die Frage nicht, ob Libération am Ende ist, sondern ob mit dem Abgang von July nicht auch das Ende jener Redakteure gekommen ist, die von 1968 her kamen.

Die Redaktion hat Ihre Leser gebeten, ihnen Geld und Ideen zu schicken. Offenbar hat man beides nötig im Kampf um das ökonomische Überleben und im Kampf, die redaktionelle Unabhängigkeit gegen Rothschild zu verteidigen.

Ja, das ist das Problem. Rothschilds investierte 20 Millionen Euro haben sich verflüchtigt, die letzten Gehälter konnten nur gezahlt werden, weil die Lohnnebenkosten gestundet wurden. Es bleibt eine völlig zerstrittene Redaktion, in der die Redaktionsführung nicht mehr akzeptiert wird. Aber die Redaktion hat bisher auch nicht gezeigt, dass sie die Kraft hat, etwas Neues zu finden.

Der antikapitalistische Charme war endgültig weg, als der konservative Bankier Rothschild einstieg.

Der traditionelle Charme war schon länger weg, aber er war ja auch nicht mehr charmant, sondern verbohrt. Man erwartet von einer Zeitung, dass sie dir zeigt, wie man weiterkommt. Der antikapitalistische Charme war rückwärtsgewandt. Lafontaine ist auch nicht charmanter geworden, seit er bei der PDS ist. Wenn ich mir’s recht überlegen, war er nie charmant.

Was wird und was müsste passieren?

Ein neuer Investor muss kommen. Das bedeutet: 80 Leute werden entlassen. Die Frage ist: Investiert jemand, damit die Zeitung sich erneuern kann?

Was könnte für Sie der Kern der Erneuerung sein? Zurück geht es nimmer, der Versuch, Le Monde als linksliberale Nummer 1 abzulösen, ist in den 90ern grandios gescheitert.

Das ist eine schwierige Frage. Du musst etwas Neues erfinden, du wirst den Abwärtstrudel mit einem Sparkurs nicht aufhalten. Das war der Konflikt zwischen July und Rothschild, der immer mehr sparen sollte. Du kannst nicht sparen und denken, du gewinnst neue Leser.

Man konnte von Rothschild aber auch nicht ernsthaft erwarten, dass er als freundlicher Mäzen sein Geld der guten Sache opfert. Die Verluste beliefen sich nach einigen Quellen monatlich auf etwa eine Million Euro.

Nein, nur neues Geld investieren, damit alles so weiter geht wie bisher – das geht auch nicht. Jetzt ist die Frage, inwieweit eine Erneuerung von Libération mit neuen Redakteuren verbunden ist und ob die den Anschluss wiederherstellen, vor allem an die intellektuellen Milieus, die Libération eben nicht mehr als ihr Leitmedium sehen. Zumindest sind es derzeit für politische Zeitungen günstige Zeiten mit Wahlkampf. Die Frage ist: Werden sie ihre Rolle im Wahlkampf finden?

Bei der Frage der EU-Verfassung war die Redaktion gespalten.

Traditionell gab es immer schwere Auseinandersetzungen in der Libération, aber in den letzten Jahren ist Hass dazugekommen.

Das Übliche oder waren das harte politische Auseinandersetzungen?

Beides. Nach dem Referendum hat July knallhart alle Gegner in einem Kommentar beschimpft. Riesenaufregung in der Redaktion. Die Aufregung war aber fehlgeleitet. Die Frage war nicht: Durfte er das schreiben? Sondern: Warum stand nur dieser eine Kommentar drin? Selbstverständlich kann er in diese Richtung schreiben, aber da muss auch ein anderer drinstehen. Denn das spiegelt ja auch die Gespaltenheit der Leser.

Hat July einen Gegenkommentar verhindert?

Nein, viel schlimmer: Die sind nicht auf die Idee gekommen. Das zeigt das Problem. Aber inzwischen ist das Klima furchtbar. Da fehlen die Persönlichkeiten, die das Verbindende artikulieren können. Aber das stärkste Gefühl ist das der Unsicherheit. Niemand hat die Antwort parat. Und wenn entlassen wird, ist die Frage: Wird jemand die Kraft haben, qualitativ zu entlassen, sodass nicht die Besten gehen und der Durchschnitt bleibt?

Wie soll das gehen?

Das ist das Problem. Die neue Führung muss eine neue Unternehmenskultur schaffen. Die renitente Redaktion spürt, dass es einen Ruck geben muss, damit die Zeitung aus ihrer Selbstinfragestellung herauskommt.

Was für eine Libération würden Sie lesen wollen?

News ist kein Wert mehr, das Entscheidende ist: Wer ist besser bei der Einordnung der Information? Le Monde erklärt, vertieft …

Das behauptet jede Zeitung.

Aber die tun es auch. Le Monde erklärt dir das Gestern und das Heute. Libération aber war Trendsetter, die waren immer einen Schritt voraus, und das eben auch in Kultur und Sport. Ist es möglich, wieder Trendsetter zu sein? Ja, wenn sie einen Journalismus machen, der das Gestern und Heute mit dem Morgen verbindet.

Mit Stellenabbau geht das nicht.

Nein. Du brauchst eine intelligente Verbindung zwischen Erfahrenen und Jungen. Aber die Älteren besetzen die Plätze, es gibt in sich keine Weiterentwicklung. Was einst avantgardistisch war, wird irgendwann langweilig. Weil es immer das Gleiche ist. Du musst es nicht mehr lesen, es reicht schon der Autorenname. Aber jetzt gibt es eine neue Situation, mit Ségolène Royal, dieser Frau, die alle zur Verzweiflung bringt. Das Dilemma der Sozialistischen Partei und das Morgen – das musst du verbinden. Wenn das passiert, wird sich der Leser sagen: Aha, das habe ich in meiner Zeitung schon mal gehört. Das ist der kleine, aber entscheidende Unterschied.

Jetzt wird wieder über „linkes“ Zeitungmachen fantasiert, was mit dem Geld und innerhalb der Logik eines renditefixierten Investors ja wohl ein Widerspruch in sich ist. Warum nicht schlicht eine gute Zeitung machen?

Dann gewinnt Le Monde. Das hat ja Libération versucht, mit Libération trois …

der Vergrößerung des Umfangs und einer Regionalisierung …

Le Monde anzugreifen, das war nicht zu machen. Das wissen sie jetzt. Und man kann eine Zeitung heute nicht mehr mit 260 Leuten machen. Das bläut man ihnen jetzt ein. Und dann wollen sie eine Auflage von plus minus 100.000 stabilisieren mit dem Ansatz des Trendsettings.

Ihre Leser sind doch auch inzwischen gesetzte Linksliberale. Brauchen die das?

Gesetzt ist nicht gleich gesetzt. Es gibt Leute, die herausgefordert werden wollen. Die wären bereit, Libération als Leitmedium zu akzeptieren. Man nimmt Libération nicht übel, wenn sie sich mal irren. Man nimmt ihnen übel, wenn sie nichts mehr probieren. Das gilt übrigens auch für die taz.