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Archiv-Artikel

Dokumentation der Hölle

Das KZ Mittelbau-Dora ist bislang als Buchenwald-Außenlager wahrgenommen worden. Eine neue Dauerausstellung bindet die Geschichte des Lagers in die Endphase der Vernichtungspolitik ein. Der Bremer Sinto und Dora-Überlebende Ewald Hanstein hat sich die Austellung angesehen

VON RALF LORENZEN

Lange hatte er überlegt, ob er seiner angeschlagenen Gesundheit diese Fahrt zumuten kann. Aber wie immer, wenn kurz hinter der Abfahrt Seesen die ersten Harz-Hügel erscheinen, ist von Ewald Hansteins Lippen ein leises, munteres Pfeifen zu vernehmen. Ja, der Harz. Hier hat der 82-jährige Vorsitzende des Bremer Sinti-Vereins die schönsten Jahre seines Lebens verbracht, und die schrecklichsten. Die schönsten, als er mit seiner Frau Rosita in den 70er Jahren ein Textilgeschäft und ein Wanderkino in Bad Sachsa betrieb und später nach der Wende, als sie auch im Ostteil wieder auf den Märkten Kleider und Teppiche anboten.

Der Anlass der heutigen Fahrt ist allerdings die schreckliche Zeit. Heute wird die neue Dauerausstellung im Konzentrationslager Mittelbau-Dora eröffnet. Seit die Sinti und Roma sich politisch organisieren, kämpfen sie für die Anerkennung der Tatsache, dass 500.000 Angehörige ihrer Minderheit Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns wurden. Auch hier in Mittelbau- Dora sind mindestens 600 Sinti und Roma Opfer des Nazi-Programms „Vernichtung durch Arbeit“ geworden.

Das Lager Dora wurde 1943 als Außenlager des KZ Buchenwald eingerichtet und nach der Verlagerung der Raketenproduktion von Peenemünde in den Stollen des Kohnsteins bei Nordhausen mit anderen Außenlagern zum selbständigen KZ Mittelbau zusammengefasst. Bis in den April 1945 wurden mehr als 60.000 Menschen verschiedener Nation hierher verschleppt, von denen mindestens 20.000 das Kriegsende nicht erlebten.

Ewald Hanstein war einer der ersten Überlebenden, die nach der Wende das ehemalige KZ besuchten – und sehen mussten, dass die DDR die Gedenkstätte stark vernachlässigt hatte. Von vornherein gehörte er dem mit Vertretern unterschiedlicher Opfergruppen besetzten Häftlingsbeirat an, der sich gemeinsam mit engagierten Politikern und Historikern für eine würdige Gedenkstätte einsetzte. Nachdem bereits Anfang der 90er Jahre ein Teil der gewaltigen Stollenanlagen wieder zugänglich gemacht und im letzten Jahr das neue Lern- und Dokumentationszentrum eröffnet wurde, ist mit der neuen Dauerausstellung ein weiterer Meilenstein erreicht.

In der Abteilung „Nach dem Krieg“ ist dem in Breslau geborenen Ewald Hanstein eine ganze Tafel gewidmet. Da die Augen nicht mehr wollen, muss seine Frau ihm den Text vorlesen. Er handelt davon, wie der Auschwitz- und Dora-Überlebende, der fast seine ganze Familie in deutschen Konzentrationslagern verlor, 20 Jahre lang um eine kärgliche Entschädigung kämpfen musste. Gleich daneben hängt das Portrait des Mitgefangenen und Schriftstellers Jean Amery, der sich 1978 das Leben nahm.

Kontrastiert werden die Opfer-Portraits von den Informationen über die Täter, die nach dem Krieg zum Teil hoch dekorierte Karrieren gemacht haben, wie z.B. Werner von Braun. Der Raketenforscher und SS-Sturmbannführer war in leitender Position an der Produktion der V2 im Kohnstein beteiligt – nach dem Krieg wurde er in den USA zum gefeierten „Rocket Man“.

„Ich finde die Ausstellung gut“, sagt Hanstein nach seinem Rundgang. „Hier sind wir Sinti und Roma als Opfergruppe endlich einmal angemessen berücksichtigt. Und auch die Täter werden benannt.“ Er erspart sich die Tafeln und Gegenstände, die die „Hölle Dora“ zeigen oder die Todesmärsche kurz vor Kriegsende. Das hat er alles selbst erlebt, sollen sich die damit beschäftigen, die nicht dabei waren. Und dann muss er doch wieder von der mörderischen Arbeit beim Ausbau der Stollen erzählen. „Viele sind einfach neben mir umgefallen. Die Verhungerten und Erschöpften mussten von den Häftlingen ins Krematorium geschafft werden.“

Die einzige Frau im Häftlingsbeirat ist Ruth Galinski, die hier seit 14 Jahren das Erbe ihres verstorbenen Mannes Heinz Galinski vertritt, des früheren Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland und der jüdischen Gemeinde in Berlin, der ebenfalls nach Dora verschleppt wurde. Auch sie findet die Ausstellung sehr gelungen.

Die klar und übersichtlich gegliederte Ausstellung bindet die Geschichte des KZ Mittelbau-Dora in die Endphase der Vernichtungs- und Rüstungspolitik ein, beginnend bei Göbbels Proklamation des totalen Krieges. Der Leiter der Gedenkstätte, Jens-Christian Wagner, erläutert die zentrale Fragestellung: „Warum wurden zu einem Zeitpunkt, als der Krieg längst verloren war, Vernichtung und Rüstung weiter forciert und ins Zentrum des Reiches zurückgeholt?“ Ein weiteres Anliegen ist es, neben dem Gedenken an die Opfer, die Täter ins Zentrum zu rücken. „Wir leben in einer Post-Tätergesellschaft und müssen nach den Strukturen der Tat fragen.“ Die Ausstellungskonzeption ist durch die Einbindung zahlreicher Portraits und Zeitzeugen-Berichte gekennzeichnet. „Wir leben am Ende der Zeitzeugenschaft und müssen eine Ausstellung für Besucher machen, die selbst kaum noch Berührungspunkte zur NS-Vergangenheit haben.“

Nach der Gedenkfeier am ehemaligen Krematorium fährt Ewald Hanstein gemeinsam mit seinem alten Freund, dem holländischen Dora-Überlebenden Albert van Dijk, ins Hotel. Auf der Fahrt unterhalten sie sich unablässig über ihre gemeinsamen Erinnerungen an die Lagerzeit. „Früher war ich ein Gefangener hinter Stacheldraht, heute bin ich ein Gefangener in Freiheit“, sagt van Dijk. „Um so älter ich werde, um so mehr kapsele ich mich ein.“ Um so wichtiger sind die Orte des Gedenkens und der Erinnerung, um sich in der Gemeinschaft der alten Freunde wenigstens ein wenig zu öffnen.

Am nächsten Tag auf er Rückfahrt durch den Harz kommt kein Pfeifen über Ewald Hansteins Lippen. Er ist erschöpft, hat in der Nacht vor Angstzuständen kein Auge zugetan. Trotzdem sagt er: „Es ist gut, dass ich hier war.“