: Berliner meckern am meisten
Die Deutschen sind nicht so politikverdrossen wie oft angenommen. Zumindest beschweren sie sich gerne beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags
BERLIN taz ■ Beim Bundestag haben sich im letzten Jahr so viele Menschen beschwert wie seit 14 Jahren nicht mehr. 40 Prozent der Beschwerden beim Petitionsausschuss des Parlaments drehten sich um Gesundheit oder Soziales. Der Ausschuss sieht sich selbst als „Seismograg, der die Stimmung der Bevölkerung aufzeichnet“. Demnach wären die Bürger so unzufrieden oder so politikinteressiert wie seit Jahren nicht mehr. Oder beides.
2005 wurden 22.144 Eingaben registriert. Nur 1992 habe es mehr gegeben, gab die Vorsitzende des Ausschusses, Kersten Naumann (Die Linke), gestern in Berlin bekannt. Die meisten Beschwerden kamen mit 1.059 pro einer Million Einwohner aus der Hauptstadt, die wenigsten aus dem Saarland (80). Neben den Beschwerden zu Gesundheit und sozialer Sicherung bezogen sich viele Petitionen auf die Arbeit des Innenministeriums (17 Prozent) und des Justizressorts (11 Prozent). Rechnet man die Massen- und Sammelpetitionen zu den Einzeleingaben hinzu, so haben sich im vergangen Jahr fast 465.000 Menschen beim Ausschuss beschwert.
Das Gros der Beschwerden an die Adresse des Gesundheits- und Sozialministeriums richtete sich gegen die Reform der Krankenversicherung, die 2004 in Kraft getreten war. Die damals eingeführte Praxisgebühr von zehn Euro war Anlass vieler Eingaben, ebenso die Einführung des zusätzlichen Beitragssatzes zum 1. Juli 2005 seitens der Rentner. Viele beschwerten sich auch darüber, dass Hartz IV die Menschenwürde verletze. Im Bereich der Justiz wandten sich zahlreiche Bürgerinnen und Bürger gegen die Privilegien der Beamten bei der Altersversorgung, mit dem Ziel, die gesetzliche Rentenversicherung und die Beamtenversorgung gleich zu behandeln. Als Reaktion auf die Auflösung des Bundestags nach Gerhard Schröders Neuwahl-Aktion durch ein erzwungenes Misstrauensvotum baten einige um ein Selbstauflösungsrecht für das Parlament.
Der Ausschuss ist nur zuständig, wenn sich eine Petition auf die Arbeit der Bundesregierung, des Bundestages oder des Bundespräsidenten bezieht. Allerdings beschwerte sich beispielsweise auch ein Bürger, dass die Künstlersozialkasse telefonisch nur sehr schlecht zu erreichen sei. Eine Schülerin machte ihrem Unmut über verpflichtenden Sportunterricht Luft. Er sei „zeitraubend und überflüssig“. Die Abgeordneten verweisen in solchen Fällen auf andere Stellen oder geben einen Rat.
Häufig nutzen die Menschen nach Auskunft des grünen Ausschussmitglieds Josef Winkler die Neuerungen im Petitionsrecht: Viele beschweren sich jetzt über ein E-Mail-Formular. Auch die Möglichkeit, bei einer schon existierenden Petition per Online-Zeichnung mitzumachen, sei ein Erfolg.
DOMINIK SCHOTTNER