„Die Identität geht verloren“

Wenn die letzte Zeche im Ruhrgebiet schließt, geht auch ein Stück sozialer Geschichte zu Ende, befürchtet der Filmemacher Werner Kubny. Die alte Solidarität sei dann nicht mehr gefragt

INTERVIEW HOLGER PAULER

taz: Herr Kubny, der Steinkohlebergbau könnte in zehn Jahren Geschichte sein. Was bedeutet das für das Ruhrgebiet?

Werner Kubny: Leider steht in der derzeitigen Debatte der wirtschaftliche Aspekt im Vordergrund. Mit dem Untergang der Zechen geht auch ein Stück Kultur verloren und ein Stück sozialer Geschichte.

Was zeichnet die aus?

Es ist das besondere Verhältnis der Menschen untereinander. Sie haben „unter Tage“ gelernt aufeinander aufzupassen, sich gegenseitig zu helfen. Das wurde von Generation zu Generation weitergetragen. Das gesamte Leben im Ruhrgebiet wurde dadurch geprägt. Heute ist dieser Charakterzug zwar immer noch zu erkennen, aber leider nicht mehr in dem Maße, wie es früher der Fall war.

Gibt es auch andere Gründe, die für den Bergbau sprechen?

Ich halte es für bedenklich, sich von der einzigen Energiereserve, die man hat, zu verabschieden. Es ist halt sehr kurzfristig gedacht. Und wenn man bedenkt, dass nur drei Prozent der öffentlichen Subventionen in den Bergbau fließen, stehen die in einem Missverhältnis zu den weiter reichenden Folgen – abgesehen von Abfindungen und Renten.

Welche Folgen sind das?

Neonazis haben im Ruhrgebiet nicht wirklich Fuß gefasst. Die Mehrheit war eher links als rechts, weil sie im Job oder im Alltagsleben aufeinander angewiesen war. Vor allem die Leute unter Tage waren eher kritisch solidarisch als rechts angepasst – auch weil sie sich täglich mit den widrigen Arbeitsbedingen auseinander setzen mussten.

Der Arbeitsalltag des Bergmanns oder Stahlarbeiters wurde oft verklärt. Dabei ist das doch Knochenarbeit.

Bei den Dreharbeiten zu meinem Film „Abenteuer Ruhrpott“ habe ich die Bergleute der Zeche Hugo Ewald in Gelsenkirchen auf ihrer letzten Schicht begleitet. Wir hatten alle Tränen in den Augen. Nach 135 Jahren wurde der Schacht dicht gemacht und verfüllt – für immer. Damit endete auch ein Stück Lebensgeschichte. Man kann es nicht mit der Arbeit bei Opel am Fließband oder bei einem Computerhersteller vergleichen. Die Leute lebten ihren Beruf. Sie haben von der Arbeit in der Gruppe, der guten Bezahlung, der starken Gewerkschaft und von den Kontakten bis hin zur Politik in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn profitiert. Das hat sie über Jahrzehnte geprägt.

An die Stelle alter Fabriken und Maschinenhallen ist die Industriekultur getreten. Ist sie mehr als nur Folklore?

Der damalige Chef der Internationalen Bauausstellung Emscher Park (IBA) hat aus der Not eine Tugend gemacht. Sie erinnert die Menschen auch daran, wer Deutschland nach dem Krieg aufgebaut hat. Es waren die Arbeiter im Ruhrgebiet. Die Industriegebäude sind Denkmäler der Geschichte, die zum Konsumieren, Besuchen oder Spielen einladen. Im Idealfall werden, wie im Gasometer Oberhausen, neue Arbeitsplätze geschaffen.

Werden die Erinnerungen die Schließung der letzten Zeche überdauern?

Ruhrgebiet bedeutet Heimat, Identität oder Integrität. Wenn die Arbeit, die Großindustrie verschwunden sein wird, werden die Begriffe eine andere Bedeutung haben. Die Solidarität wird nicht mehr in dem Maße vorhanden sein, wie es vielleicht vor 20, 30 Jahren der Fall war. Schon jetzt leben die Menschen in den ehemaligen Industriesiedlungen für sich. Es gibt keine wirkliche Gemeinschaft mehr. Das Ruhrgebiet ist ein Auslaufmodell. Städte wie Bochum, Duisburg oder Gelsenkirchen wurden sehr stark durch die örtliche Industrie geprägt. Die Identität geht verloren. Vom alten Ruhrpott wird nicht mehr viel übrig bleiben.