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Archiv-Artikel

Auf der Kippe

AUS BERLIN UND HEIDELBERG GEORG LÖWISCH

Romy Schneider liegt im Bademantel auf der Couch. Versonnener Blick, entspannte Haltung, die Schauspielerin wirkt, als dächte sie gerade über das traurige, süße Leben nach. In der Rechten hält sie eine Zigarette. Gleich wird sie einen Zug nehmen, keine Spur davon, dass sie einen Kriegsschauplatz schmückt.

Das kleine gerahmte Schwarzweißfoto hat einen Ehrenplatz über dem Kamin im Berliner Clubraum der deutschen Tabakindustrie. Es vermittelt ein Lebensgefühl. Es passt. Männer und Frauen entspannen sich, unter ihnen Abgeordnete, Fraktionsgehilfen, Korrespondenten. Sie sitzen in Clubsesseln mit einem Glas Rotwein in der Hand, sie rauchen an der Bar ein Zigarillo oder tun sich am Buffet toskanisches Huhn mit Wildreis auf. Der Clubraum liegt im achten Stock eines Hauses nahe der US-Botschaft, durchs Fenster reflektiert die Kuppel des Reichstages weiches Abendlicht auf die Gesichter der Gäste.

Die Gastgeberin heißt Andrea Winkhardt, 47, und ist Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim VDC, dem Verband der Cigarettenindustrie. Der Verband aber befindet sich im Krieg, trotz der sanftmütigen Stimmung hier oben. Die Branche führt einen der wichtigsten Kämpfe ihrer Geschichte. Rauchverbote oder freies Rauchen. Es steht auf der Kippe.

Winkhardt hat nicht zur „Blauen Stunde“ eingeladen, um über Rauchverbote zu debattieren. Würde nur nerven. Lieber plaudert sie darüber, dass sie Patentante geworden ist. „Lena-Sophie, finden Sie das gut?“ Sie spricht ein schnelles Schwäbisch. Ein kleiner Junge namens Alexander rüttelt an ihrem Arm. Seine Mutter Christine Lambrecht, SPD-Rechtsexpertin im Bundestag, hat ihn mitgebracht, er hat noch den Schulranzen mit, jetzt will er, dass sich Winkhardt mit ihm beschäftigt.

Der VDC muss sich wappnen. Über Jahre hat Winkhardt ein Netzwerk aufgebaut. Jetzt muss es wirken. Der Zigarettenindustrie drohen Rauchverbote in öffentlichen Einrichtungen, in Restaurants, Cafés, Diskos, Werbeverbote. Im Sommer ist in den Medien sogar wieder über die Abschaffung von Automaten diskutiert worden.

„Darf ich ihnen ihre Exzellenz Maja Pandshikidse, Botschafterin von Georgien, vorstellen?“, fragt Winkhardt. Pandshikidse sagt, dass sie mit der Frau vom VDC befreundet ist.

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Die Angriffswelle, die sich auf die Zigarettenindustrie zubewegt, kommt aus Heidelberg. Auf dem Campus der Uniklinik liegt der Gebäudekomplex des Deutschen Krebsforschungszentrums. Im Erdgeschoss ist die Stabsstelle Krebsprävention untergebracht. Es ist kurz nach neun, aber die Chefin läuft schon wie eine kleine Schnellbahn. Martina Pötschke-Langer, 55, ist jeden Morgen um sieben im Büro, und sie geht abends um sieben. Danach studiert sie die Zeitungen. „Wir können doch unser Leben nicht verschlafen“, ruft sie. „Fünf Stunden müssen reichen.“

Für Pötschke-Langer war es bisher ein gutes Jahr. Im Juni hat der Spiegel erstmals eine Titelgeschichte gegen das Passivrauchen gebracht, Horst Seehofer rief in Bild am Sonntag zum Kampf gegen den Qualm auf, und Angela Merkel bekundete, dass sie für Verbesserungen des Nichtraucherschutzes sei. Im Bundestag wurden zwei Anträge geschrieben, die Rauchen in der Gastronomie völlig verbieten lassen wollen. Aber jetzt hat sich schon lange kein wichtiger Politiker mehr gegen das Rauchen ausgesprochen, vor allem keiner aus der Partei der Kanzlerin. „Das wird noch ein steiniger Weg“, sagt Pötschke-Langer. Sie hat sich eine Urlaubssperre verpasst und kommt samstags noch mal sechs Stunden rein. Sonntags auch. „Hat der Grafiker angerufen?“, fragt sie Frau Schmitt, ihre Mitarbeiterin.

Sie muss zu einem Termin. Drüben im Vortragsaal werden die 41 neuen Azubis des Forschungszentrums eingeführt, samt Eltern. Sie wird erstmals ihre neuen Daten vor Publikum testen: Schadstoffe in Restaurants, Bars und Diskos in zehn deutschen Städten und eine Studie, die ergibt, dass die Wirte von Irland über Kalifornien bis Südaustralien trotz Rauchverboten gut leben. Pötschke-Langer betritt den Vortragssaal, die Veranstaltung läuft schon. Aber ihre Kolleginnen schauen erfreut, es wirkt eher so, wie wenn Angela Merkel endlich auf einem laufenden CDU-Landesparteitag eintrifft. Pötschke-Langer spricht frei, geht vor der ersten Reihe auf und ab und projiziert in kurzen Abständen Bilder an die Wand. 4.800 Substanzen im Tabakrauch, die roten Stoffe auf dem Bild sind die krebserzeugenden, „das lässt sich nicht wegdiskutieren und nicht verniedlichen“. Nächstes Bild: Eine Schwangere mit Zigarette. „170.000 Neugeborene, die praktisch im Mutterleib schon mitgeraucht haben.“ Fehlgeburten, Mangelgeburten, Lernschwierigkeiten. „Verheerend.“ Eine Azubi-Mutter mit Goldrandbrille schaut streng zur Tochter.

Pötschke-Langer ist schon bei den neuen Messungen. Kurvengrafiken mit Schadstoffwerten in Bars. Sie sehen aus wie Schweizer Alpengipfel. „Und hier die Diskos: desaströs. Das sind die Räume, wo unsere Kinder tanzen.“ Betretenes Schweigen. Sie hat diesen Moment eingeplant und ruft eine Karikatur auf. Ein Kellner fragt seine Gäste, wo sie sitzen möchten: „Nichtraucher oder Passivraucher?“ Azubis und Azubi-Eltern lächeln erleichtert.

Pötschke-Langer berichtet von Irland, wo Restaurants und Pubs seit 2004 rauchfrei sind. „Kein Pub musste geschlossen werden“, zitiert sie Irlands Präsidenten. „Das wollen wir auch für Deutschland haben.“ Sie zielt mit dem Zeigefinger auf die Jungen und Mädchen. „Ich hoffe, Sie helfen mir dabei.“

Sie eilt zurück ins Büro. 50 Prozent der Azubis rauchen, schätzt sie. „Das gewöhnen wir ihnen ab.“

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Im Clubraum des VDC stellt Andrea Winkhardt einen freundlichen Mann mit Vollbart vor. Professor Wolf-Dieter Heller, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung. Sie schwebt davon. Heller, Pfeifenraucher und Mathematiker, bewertet für die Industrie wissenschaftliche Ergebnisse und vergibt eigene Forschungsaufträge. 1981, kurz nach seiner Promotion, hat er die erste Studie zum Passivrauchen gelesen. Japanische Wissenschaftler hatten die Daten von Raucherfrauen neben die von Nichtraucherfrauen gelegt und die Krebsrate verglichen. Bei den Raucherfrauen war sie höher. Heller ist keiner, der die Gefahren des Rauchens kategorisch abstreitet. Er würde gern darüber diskutieren, welche Ergebnisse wirklich aussagekräftig sind. Zum Beispiel, ob der Faktor berücksichtigt wurde, wie sich ein rauchender Patient ernährt hat. „Wenn das die Frau Pötschke-Langer hört, sagt sie wieder: Das ist ’ne Mär.“ Er schaut ein bisschen traurig. Der VDC nimmt zu den Studien des Krebsforschungszentrums kaum Stellung, und immer weniger interessieren sich für seine Sicht auf die Wissenschaft. „Kennen Sie das Lied?“, fragt ein Tabakmann, der an den Tisch gekommen ist. „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern.“ Verfolgt, nicht richtig ernst genommen, zu hoch besteuert, so fühlen sie sich. Manchmal.

Der VDC hat sieben Mitglieder. Gemeinsam setzen sie 19,5 Milliarden Euro im Jahr um. Seit 2002 ist die Tabaksteuer stufenweise erhöht worden. 2002 wurden 145,1 Milliarden Zigaretten verkauft, 2005 nur noch 95,8 Milliarden. Die sieben Vorstandschefs, fast alles Filialleiter internationaler Konzerne, stehen unter Druck. Wenn Deutschland das Rauchen und die Werbung dafür weiter einschränkt, werden sie noch mehr Geld verlieren.

Sie haben unterschiedliche Strategien. Reemtsma schickt immer noch Briefe an Bundestagsabgeordnete, in denen beteuert wird, dass im Passivrauchen „wenn überhaupt, nur ein äußerst geringes Risiko“ liege. Dagegen hat Philip Morris den wissenschaftlichen Streit ums Passivrauchen verloren gegeben. Die Marlboro-Hersteller unterstützen sogar Rauchverbote in öffentlichen Einrichtungen. Lieber ein klarer, vielleicht schmerzhafter Friedensvertrag als ein Dauerkrieg. Ein Krieg, in dem monatlich Heidelberger Horrordaten veröffentlicht werden und am Ende das Rauchen völlig verboten ist.

Die Gegenposition lautet: Geben wir ihnen eine Zigarette, nehmen sie erst eine Schachtel, dann eine Stange und am Ende die ganze Fabrik.

Einen Tag nach der „Blauen Stunde“. Andrea Winkhardt erklärt in ihrem geräumigen Büro die Verbandsposition. „Wenn es zu Regulierungen kommt, sollte man sie mit Augenmaß machen. Bei öffentlichen Einrichtungen: dass der Raucher irgendeine Möglichkeit zum Rauchen hat. In der Gastronomie könnte es ähnliche Lösungen geben.“ Die Rechte der Raucher. Sie mag dieses Argument. Sie erzählt, wie sie im Juni in Dublin war. Deutschland gegen Schweden, der Pub war rappelvoll. Sie musste zum Rauchen auf die Straße, durfte aber ihr Bier nicht mitnehmen. Jetzt: Was macht sie mit ihrem schönen Stout? Im Gedränge stehen lassen? Sie hat sich vor die Tür gestellt, die Hand mit der Marlboro draußen, die mit dem Glas drinnen. Winkhardt kichert.

Neben ihr an der Wand hängen Fotos. Es sind ihre Gäste. 1990 hat sie Gesprächsabende eingeführt, die Oberkasseler Gespräche, später wurden es die Spreegespräche. Ausgewähltes Publikum, zwei Ehrengäste, ein Tabakmanager für die Begrüßung. Keiner der Männer auf den Fotos vermittelt den Eindruck, sich gerade bei Schmuddelkindern aufzuhalten. Als Erster kam 1990 Walter Kempowski, der Fernsehverächter, zwei Monate später interviewte Fritz Pleitgen Lew Kopelew. Im Laufe der Jahre standen Biermann und Reich-Ranicki auf der Gästeliste, Thoma von RTL und Struve vom Ersten, Barbier von der FAZ und Prantl von der Süddeutschen, der Stasi-Jäger Hubertus Knabe und der Astronaut Ulf Merboldt. Sie hatte sie alle. Manche wollten ein Honorar, andere verzichteten. Letztes Jahr war Nikolaus Brender vom ZDF da und im Frühjahr der evangelische Bischof Huber. Da standen allerdings schon einige Tabakgegner vorm Haus.

Winkhardt gefällt ihr Job. Sie war früher Fernsehjournalistin. Jetzt macht sie Gesprächsabende. Ihr alter Chef vom Bayerischen Rundfunk lächelt von einem der Fotos. Denkt sie manchmal daran, dass sie für ein tödliches Produkt kämpft? „Ich trinke zu gerne Rotwein, als dass ich mir die Frage stelle. Ich schwimme gern, ich fahre Auto.“ Es soll sich fröhlich anhören. Ich rauche gern. „Wenn man verantwortungsbewusst damit umgeht und die Risiken kennt, braucht man sich für nichts zu schämen.“ Liberté toujours. Sie hat jetzt die Arme vor der Brust verschränkt. Sie will die Zitate aus diesem Gespräch gerne noch mal gegenlesen.

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Martina Pötschke-Langers erste Operation war eine Amputation. Der Mann auf dem Tisch war starker Raucher, und der Chirurg gab der jungen Kollegin ein Bein in die Hand, das gerade abgesägt wurde. Sie mochte die Chirurgie: brutal, aber ehrlich. Entweder man operiert gut oder nicht. Sie war fasziniert von der Medizin. Deswegen hat sie nach dem Magister in Germanistik ein zweites Studium angefangen. Schon während der Ausbildung ist sie in eine Lungenkrebsklinik gekommen und später in die Gefäßchirurgie. Die Betten waren voller Raucher. Alles wurde getan, um die Schäden zu heilen, und nichts, um sie zu verhindern. „Ich hab entschieden, dass ich etwas in der Prävention machen möchte“, sagt sie. „Nicht dieses tägliche Leiden.“

Frau Schmitt öffnet die Tür. Der Grafiker ist jetzt dran. Pötschke-Langer sagt ins Telefon, dass sie die Unterlagen zu den neuen Studien in drei Tagen braucht. Sie wird sie mit nach Berlin nehmen, in die Bundestagsfraktionen. „Sorry für diesen Zeitdruck. Aber es ist für Deutschland wichtig.“ Hinter ihrem Stuhl hängt ein Poster, auf dem ein Kleinkind mit großen Augen in Rauchschwaden schaut. „Körperverletzung“, steht darunter.

Gegenüber dem Schreibtisch hängt ein afrikanisches Tuch, auf dem Fensterbrett steht ein geschnitzter Elefant aus Tansania. Sie sagt, dass sie Afrika liebt, sie bezahlt einem Mädchen in Uganda die Schule. Im Medizinstudium hat sie ein paar Wochen in Kliniken in Westafrika gearbeitet. Man kann sich vorstellen, dass sie die Gesundheitsversorgung dort umgekrempelt hätte, wenn sie geblieben wäre. Oder dass sie den ganzen Rhein-Neckar-Raum mit Montessori-Kindergärten überzogen und nicht nur den einen für ihre drei Söhne aufgebaut hätte, wenn da nicht der Kampf gegen das Rauchen wäre. Sie sagt: „Ich hab das alles hundertprozentig gemacht.“

Das Hunderprozentige treibt sie an, aber es ist auch ihre Schwäche. Genau hier kann Andrea Winkhardt mit den Raucherrechten einhaken. 100 Prozent? Augenmaß bitte!

Pötschke-Langer erzählt, wie sie vor zwei oder drei Jahren bei einer Anhörung im Bundestag war. Im Fahrstuhl stand ein Mann von einem der sieben Zigarettenhersteller. „Frau Pötschke-Langer“, habe der Mann gesagt, „ich weiß, dass sie uns töten wollen.“ – „Ich hab gesagt: Das sehen sie völlig falsch. Ich bin Ärztin, ich will sie nicht töten. Ich möchte nur, dass ihr Produkt vom Markt verschwindet.“

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Die Zigarettenlobbyisten und ihre Gegner unterscheiden sich im Geld, das sie zur Verfügung haben, und im zeitlichen Vorsprung des VDC. Martina Pötschke-Langers Büro würde ungefähr dreimal in das von Andrea Winkhardt passen. In Heidelberg schätzen sie den Sponsoringetat der Tabakfirmen auf 100 Millionen, den Etat des VDC auf über 20 Millionen. Das Krebsforschungszentrum bekommt aus öffentlichen Mitteln 120 Millionen und hat 2.000 Mitarbeiter. Aber von all den Statistikern, Tumorbiologen und Laboranten beschäftigen sich nur zwölf in Pötschke-Langers Stabsstelle mit dem Kampf gegen das Rauchen. Sie sagt, dass für die Stabsstelle 500.000 Euro zur Verfügung stehen.

Die Tabakindustrie begann schon vor Jahrzehnten, die Diskussion ums Rauchen zu beeinflussen. Sie half Politikern, sorgte für Juristen und hielt sich Medizinprofessoren. In den 70er-Jahren ließ sich sogar Dietrich Schmähl, ein Direktoriumsmitglied des Deutschen Krebsforschungszentrums, zum Chef des „Forschungsrates Rauchen und Gesundheit“ beim VDC machen. Er kassierte selbst und entschied über die Summen für Kollegen.

Aber die Herren im Zweireiher waren sich vielleicht ein bisschen zu sicher und ein bisschen zu weit weg vom Bonner Regierungsgeschehen in ihrem Haus an der Hamburger Außenalster. Ende der 80er-Jahre wurde die Diskussion ums Passivrauchen hörbar. Gesundheitsministerin Rita Süssmuth von der CDU kündigte an, Nichtraucher schützen zu wollen. Eine Steuererhöhung konnte der VDC gerade noch abmildern. Die Verbandsherren reagierten. Umzug nach Bonn, außerdem wurde eine junge Journalistin gesucht. 1990 fing Andrea Winkhardt an.

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1998 sollte der Bundestag ein Nichtraucherschutzgesetz beschließen. In Heidelberg hatte der Vorstand des Krebsforschungszentrums eine neue Stabsstelle eingerichtet. Die Mitarbeiter sollten sich nicht auf das Medizinische beschränken. Sie mussten vermitteln, was das Rauchen für die Wirtschaft bedeutete, wie die Bevölkerung dazu stand und was in anderen Ländern passierte. Sie mussten die Massenmedien erreichen.

Es sah richtig gut aus für das Gesetz. Doch kurz vor der Abstimmung trafen Meldungen von Abgeordneten ein, die umgeschwenkt waren. Das Gesetz fiel durch. „Wir standen naiv staunend da und guckten“, sagt Pötschke-Langer. „Aus Katastrophen kann man lernen.“

Sie fährt jetzt alle zwei Wochen nach Berlin. Sie hat Termine im Kanzleramt, im Präsidialamt, bei Union und SPD, ja sogar beim Drogenbeauftragten der FDP. Sie liest die Bunte, um zu wissen, wer wichtig ist in Deutschland. In ihrem Büro steht eine Tafel, auf die ihr Team mit Filzstift Ziele und Strategien geschrieben hat. Der Name von Rita Süssmuth steht darauf und auch der von Friede Springer. Von ihr führt ein Pfeil zu Bild, ein zweiter zu Angela Merkel.

Sie arbeiten hier viel, und die Stimmung ist gut. Frau Schmitt, die den Tabakkontrollkongress im Dezember vorbereitet, bringt selbst gebackenen Zwetschgenkuchen mit. Dr. Schneider, ein trockener Soziologe, wertet Forschungsdaten aus und wirkt vom Kampf gegen das Rauchen unbeeindruckt. Frau Schunk stemmt die Abgewöhnaktion „Rauchfrei“, fast 100.000 Raucher haben dieses Jahr mitgemacht. Sie gehen manchmal zusammen weg, neulich waren sie in Frankfurt im Kino. Der Hollywood-Film hieß „Thank you for smoking“ und handelte von einem Tabaklobbyisten. Martina Pötschke-Langer sagt, dass sie herzlich gelacht hat. Sie ist aber nicht ganz sicher, ob sie den Film uneingeschränkt mögen soll. Sie hat gehört, dass der VDC zu einer Sondervorstellung einlädt.

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Berlin, Cinemaxx am Potsdamer Platz. Andrea Winkhardt empfängt ihre Gäste an der Treppe zum Kino 6. Die meisten sind um die dreißig und mit Partnerin oder Partner gekommen. Mitarbeiter von Ministerien und Abgeordneten. Sie hat für diesen Abend den Saal gekauft, 278 Plätze. „Da hinten gibt’s was zu essen“, sagt Winkhardt. Die Gäste folgen dem Popcorngeruch. Ein Korrespondent vom Norddeutschen Rundfunk kommt auch noch. Er begrüßt Winkhardt mit Handkuss und erzählt, dass er gerade Merkel interviewt hat. Sie setzen sich nebeneinander.

Der Held in „Thank you for smoking“ ist Chefpressesprecher der Zigarettenlobby. Nick Naylor, ein süßer großer Junge mit seinem süßen kleinen Sohn Joey. Nick ist schlagfertig. Als er in einer Talkshow neben einen krebskranken Jungen gesetzt wird, sagt er, dass die Industrie kein Interesse haben könne, einen Kunden zu töten: „Es ist die Anti-Raucher-Liga, die seinen Tod will, damit sie Recht behalten kann!“ Vor der Klasse seines Sohnes ruft er: „Wenn eure Eltern sagen, Schokolade ist gefährlich, glaubt ihr das?“ Nick ist hemmungslos, genießt sein Gehalt und jettet zum wichtigsten Tabakmilliardär. Die Skrupellosigkeit macht ihn sexy. „Sie böser Junge“, sagt eine Reporterin und steigt in sein Bett.

Andrea Winkhardt sieht Nick Naylor zu. Sie kennt einiges von dem, was sie sieht. Sie ist ja auch in den Süden der USA geflogen zu einem der Tabakbosse. Im Jaguar ist sie über das riesige Firmengelände chauffiert worden.

Die deutsche Chefpressesprecherin lacht. Ihr Lachen hatte am Anfang etwas Angespanntes, aber je länger der Film dauert, desto gelöster wird es. „Klasse Film“, sagt sie am Ende. „Gutes Ding“, bestätigt der Rundfunk-Korrespondent.

In „Thank you for smoking“ plagt ein Senator aus Vermont die Zigarettenindustrie mit schärferen Bestimmungen. Seit diesem Jahr gibt es so jemand auch in Deutschland, nur dass er nicht einer von 100 Senatoren ist, sondern einer von 614 Bundestagsabgeordneten. Lothar Binding sitzt auf den hinteren Bänken der SPD. Er war so unbekannt und unwichtig, dass ihn Andrea Winkhardt nicht mal auf die Warteliste der Spreegespräche gesetzt hätte. Weil Binding aber aus Heidelberg kommt, hat Martina Pötschke-Langer ihn zu sich eingeladen. Sie lächelt, wenn sie davon erzählt. Binding fragte, ob wirklich ein Termin für ihn frei sei. Als er im Februar vorbeikam, hat sie ihn übers Passivrauchen aufgeklärt, sie hat von rauchenden Schwangeren berichtet, von Rauchverboten anderswo, das ganze Programm.

Binding hat seine Kolleginnen von der Gesundheitspolitik angesprochen, er machte ja eigentlich Finanzpolitik. Aber die Kolleginnen steckten bis zum Hals in der Gesundheitsreform, und da hat Binding selbst einen Antrag aufgesetzt. Presseagenturen riefen an, der Südwestrundfunk, und irgendwann bat sogar der VDC um ein Gespräch. Zusammen mit den Gesundheitspolitikerinnen schickte er den Antrag an alle Kollegen: Rauchverbot in der Gastronomie sowie in allen Schulen, Ämtern und Universitäten. 140 Unterschriften von SPD und Linksfraktion hat er zusammen, Wolfgang Thierse und Gregor Gysi sind dabei, und die Grünen wollen scharfe Verbote auch. Aber die Unionsfraktion berät und berät. Ihr Chef Volker Kauder will nicht, sein SPD-Kollege Peter Struck, ein Raucher, knurrt ablehnend. Irgendwie ist es immer noch so, dass die Raucherpolitik als Privatsache gesehen wird, weil Rauchen ja Privatsache ist. Jetzt mögen Binding und seine Kolleginnen nicht mehr warten. Sie werden nächste Woche den Antrag ins Parlament einbringen, vielleicht wird sogar schon abgestimmt. Es kommt auf jede Stimme an. Auf jeden Abgeordneten.

Sie kämpfen. Andrea Winkhardt für eine Light-Version des Nichtraucherschutzes, Martina Pötschke-Langer für die Nichtrauchergesellschaft. Es geht um Milliarden, um die Zukunft einer Branche, um Leben und Tod. Dabei ist es nur ein Nebenschauplatz. Vor ein paar Wochen meldete British American Tobacco, die Nummer zwei in der Tabakwelt, eine dreizehnprozentige Gewinnsteigerung wegen der guten Entwicklung auf den neuen Märkten in Lateinamerika und Asien. Philip Morris, die Nummer eins, erobert gerade China.