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Archiv-Artikel

Umschlagplatz erlesener Waren

BABEL MED MUSIC Ein Dock am Marseiller Hafen steht während dreier Tage im Zeichen der Weltmusik. Drumherum tobt der Stadtumbau

Die Kommune hat zugesichert, dass das Festival noch bis 2020 im Dock des Suds stattfinden kann

VON ELISE GRATON

Die Zebras vermehrten sich. Als das Weltmusik-Forum Babel Med Music 2005 seine Premiere feierte, diente ein Zebra als Maskottchen. Im Jahr 2006 wurden daraus zwei, 2007 bereits drei. „Bald gab es auf dem Poster keinen Platz für mehr Zebras“, erzählt der Ethnomusikologe und künstlerische Co-Direktor Sami Sadak: „Also nahmen wir eine Giraffe. Mit Zebrastreifen.“

Vergangenes Jahr, als der alte Hafen im Stadtzentrum eine neue Fassade verpasst bekam und sich Marseille „Europäische Kulturhauptstadt“ nennen durfte, prangte erstmals ein gestreifter Kran auf dem Plakat. Und nun, 2014, ist es ein Bagger. Denn die Bauarbeiten im Zentrum der Stadt laufen auf Hochtouren, auch im strukturschwachen Gebiet, das sich vom alten zum neuen Hafen zieht. Hier, hinter den Stadtteilen Panier und Joliette, befindet sich auch das Festivalgelände am Dock des Suds.

Einst diente das Dock des Südens der Lagerung von Zucker und Gewürzen aus der Karibik und der Region um den Indischen Ozean, bevor die Ware von hier aus weiter Richtung Norden verkauft wurde. Seit 1998 wird das Gelände als Veranstaltungsort mit mehreren Konzerträumen genutzt. Wenige Meter von der neuen Endhaltestelle der Tramlinie 2 erwartet die Besucher eine Großbaustelle. Die ehemaligen BewohnerInnen der umliegenden, bereits sanierten Gebäude sind größtenteils ausgezogen. Früher oder später wird auch das Babel Med Music umziehen müssen, noch weiter raus aus dem Stadtzentrum. Die Rede ist von einem seelenlosen Kulturzentrum, über dessen Bau bereits verhandelt wird.

Doch 2014 dient das Dockareal im Rahmen der Babel Med Music noch einmal seiner Bestimmung als globaler Umschlagplatz erlesener Waren: in diesem Fall feinster Musik aus aller Welt. Während dreier Tage trifft sich hier die internationale Musikbranche, um bei Publikumskonzerten, einer Fachmesse und einem angegliederten Konferenzprogramm, die Zukunft der „World Music“ zu erkunden. Ein kurzer Rundgang über den Marché genügt, um sich in Erinnerung zu rufen, dass es beim Babel Med Music nicht allein um die Kunst geht, sondern auch ums Geschäft. Ob Vertriebe aus Norwegen oder Produzenten aus Marokko, Festivals von den Kapverden oder Labels aus Brasilien, alle preisen hier ihre Dienste mit bunten Broschüren an.

Flyer und Demo-CDs verteilt auch die chinesische Musikerin Sissy Zhou. Den um sie Versammelten überreicht sie ihre Werbemittel wie in einer rituellen Zeremonie, behutsam, stoisch, mit Demut. Zhou spielt seit ihrem sechsten Lebensjahr Guzheng, eine Wölbbrettzither. Laut der chinesischen Medizin soll ihr Klang zur inneren Ruhe, ja sogar zur Heilung von Nervenkrankheiten beitragen. Beim Erlernen der Guzheng musste Sissy Zhou allerdings eher leiden: „Selbst wenn meine Fingerkuppen bluteten, musste ich weiterspielen. Und meine Mutter schlug mich, wenn ich nicht auf meine Handhaltung achtete“, erzählt die junge Frau, die sich erste Guzheng-Lehrerin Frankreichs nennt.

Deal und Handhaltung

Natürlich vergreife sie sich nicht an ihren Schülern, bemängelt allerdings deren Ungeduld und Unwillen, die traditionelle Handhaltung zu lernen. So sehr scheint sich Sissy Zhou dann doch nicht um Traditionen zu scheren, denn auf der Bühne adaptiert sie auf ihrem vor mindestens 2.500 Jahren erfundenen Instrument unbekümmert Fadoklassiker, spielt Bach oder vermischt neuerdings chinesische mit provenzalischen Klängen. Vom Festival Babel Med Music erhofft sie sich einen Plattenvertrag. Als wäre dies ein Stichwort, springt ein älterer Mann aus der Interviewrunde auf und gibt sich als Musikproduzent inkognito zu erkennen. Sein Label kümmere sich zwar ausschließlich um taiwanesischen Pop – aber für Sissy Zhou wäre er bereit, eine Ausnahme zu machen. Und schon werden Visitenkarten ausgetauscht. Mission erfüllt.

Am anderen Ende der Halle befindet sich eine kleine Bühne, die für lokale Bands reserviert ist. Momentan spielt das Bélouga Quartet, vier Männer mit provenzalischen Flöten und kleinen Trommeln. Zwischen dem fröhlich gestimmten Publikum hastet eine Frau hin und her, drückt allen Flyer in die Hand, verteilt den Rest auf den umliegenden Tischchen und lässt sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. „Die Poster muss ich auch noch aufhängen“, schnauft Christina Rosmini. Sie vertrete eine Musikerin, die demnächst voll durchstarten wird. „Sie macht etwas Besonderes: Französische Songkompositionen – mit arabisch-andalusischen Sounds. Eine gewagte Mischung“, wie sie findet. Ihr Augenlid zuckt nervös. „Ich habe letzte Nacht an der Website gewerkelt. Bei der Babel Med kann man es sich einfach nicht leisten, unvorbereitet aufzukreuzen.“ Dies bestätigt Pressesprecher Olivier Rey: „Babel Med Music ist zwar eine Starterveranstaltung“, erläutert er, „es ist aber nicht das Printemps de Bourges der Weltmusik.“ Es ist also kein Sprungbrett für junge Talente. Die MusikerInnen, die unter den 1.026 Bewerbungen aus 47 Ländern dieses Jahr berücksichtigt wurden, sind künstlerisch interessant, aber bereits so professionell gereift, dass sie gleich morgen auf Tour fahren könnten, sollte sich das hier ergeben.“ Dieses Jahr haben es immerhin 31 geladene Künstler aus 30 Ländern geschafft, die großen Showcase-Konzerte des Docks vor einer Mischung aus Fachpublikum und lokalem Jubelpublikum zu bespielen.

Einer der Glücklichen ist Jupiter Bokondji. Auch er ist schon ein alter Hase. Bereits 1995 gründete er seine Band Okwess International und nach eigenen Angaben entwickelt der Kongolese seit Anfang der Achtziger einen eigenen Musikstil. Damals kehrte der Diplomatensohn gerade von einem sechsjährigen Berlinaufenthalt zurück, währenddessen er nicht nur die Songs von Jackson 5, David Bowie oder Frank Zappa im Radio studierte, sondern auch den Rassismus. „Zu Hause entdeckte ich die traditionelle Musik meiner Heimat und ihre ungeheure Vielfalt. Im Kongo leben etwa 450 Ethnien und sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie zehn bis 15 eigene Rhythmen haben! Mich machte es sehr wütend, wie dieser musikalische Reichtum von der kongolesischen Rumba verdrängt wurde, der Musik der Kolonisten.“

So machte sich Jupiter Bokondji daran, die traditionellen Rhythmen mit westlichen Instrumenten zu transkribieren, mit dem Ziel, seiner Musik eine internationale Dimension zu verleihen und sein Land endlich von der Rumba zu befreien. Der Bürgerkrieg brachte den Plan erst mal durcheinander und ein Großteil seiner Band floh nach Europa. Doch Jupiter harrte aus. Erst im Jahr 2007 wurde die Welt durch den französischen Dokumentarfilm „La danse de Jupiter“ über Kinshasas Musikszene auf ihn aufmerksam und endlich wurde sein Debütalbum daraufhin veröffentlicht.

Einladung von Albarn

Als ein Ergebnis wurde Jupiter von Blur-Sänger Damon Albarn im Rahmen der Africa Express Tour nach Großbritannien eingeladen. „Mittlerweile widmen sich immer mehr kongolesische MusikerInnen der Entdeckung ihrer eigenen Rhythmen“, berichtet Bokondji. Wie ausgezeichnet sich diese Musikstile exportieren lassen, stellt sein abendlicher Bühnenauftritt unter Beweis: Das Konzert entpuppt sich als der kraftvollste und energetischste Moment des Festivals. Mit Punkattitüde lässt Jupiter Bokondji einen brummelnden Bass auf traditionelle Zebola-Rhythmen treffen.

Am Sonntag regnet es in Strömen. „Ihr habt zu viele Bretonen eingeladen“, witzelt Papet J, Mitglied der Marseiller Reggaeband Massilia Sound System, dem Babel-Med-Team zu, und tritt in eine Pfütze. Die Schlaglöcher der Straße auf dem Weg zur Straßenbahn sind voll mit Regenwasser. Demnächst soll hier alles neu asphaltiert werden. „Wir sehen uns nächstes Jahr wieder hier!“, ruft Sami Sadak Papet J hinterher. Die Kommune habe zugesichert, dass das Dock die Weltmusik noch bis 2020 beherbergen darf.