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Archiv-Artikel

Erschöpft mitleiden

Melancholie im Führerbunker: Christoph Schlingensief hat von Friedman und Schäuble bis Bayreuth oder Lady Di alles und jeden umarmt. Nur nach seiner eigenen Haltung sucht man dabei vergebens

von WOLFGANG MÜLLER

Gemeinsam mit Michel Friedman saß er auf dem Rücksitz eines luxuriösen Autos und fuhr mit Arte durch die Berliner Nacht. Vergeblich wartete ich auf die freche Frage: „Sind Sie nach ihren Kokserfahrungen wenigstens für die Entkriminalisierung von Haschischkonsumenten? Kämpfen Sie jetzt gemeinsam mit der Prostituiertenorganisation Hydra für die rechtliche Anerkennung der Prostituierten, auch in der CDU?“ Christof Schlingensief aber plauderte mit ihm, als wäre überhaupt nichts geschehen. Wie furchtbar, dachte ich, ist der denn völlig handzahm geworden?

Tags darauf klärte mich ein Bekannter auf. Die Sendung war schon vor dem Friedman-Skandal aufgenommen worden. Aber merkwürdig: Die intime Plauderei zweier Männer, die aus scheinbar völlig konträren Lagern stammen, wirkte dennoch unangenehm. Später fuhr Schlingensief noch mit Jörg Immendorf durch die Stadt. Das ist der Künstler, der vom gesellschaftskritischen Maler zum Illustrator der Bild-Bibel mutierte.

Irgendwo fand ich dann – war es in der Zeit? – ein Interview, in dem Schlingensief sein Verbleiben als zahlendes Mitglied der katholischen Kirche begründete. Na gut, da er nicht weiblichen Geschlechts und auch nicht schwul ist, ist das ja immerhin möglich. Vielleicht hat er gewichtige persönliche Gründe, den Verein um Erzreaktionär Ratzinger zu ertragen und mitzufinanzieren. Wobei – es wird doch hoffentlich nicht die von Immendorf bebilderte und von Bild-Chef Kai Diekmann zur Leipziger Buchmesse präsentierte 2,5-Kilo-Bibel für 19,95 Euro sein? Diekmann (41): „In diesem Werk dokumentiert Immendorf die Faszination der Sinnsuche: Woher kommen wir, wohin gehen wir, was ist das alles?“

„Lafontaine predigt aus seiner 2-Millionen-Villa gegen Armut!“ las ich als Nächstes in einem Online-Interview, in dem Schlingensief die Verlogenheit der Politiker geißelte. Ich verstand nur Bahnhof. Hatte der Empörte nicht in Bayreuth gerade Wagner inszeniert und damit Angela Merkel erfreut? Ist Bayreuth im Kulturbetrieb denn wirklich etwas anderes als eine 2-Millionen-Villa in Saarbrücken? Und dann folgte eine populistische Schelte gegen Joschka Fischer, der „seinen 68er-Pulli aus der Altkleidersammlung“ kramen würde, wenn er vor Junggrünen spreche. Plötzlich – die Wende: tiefes Verständnis für Wolfgang Schäuble, den er einmal kennengelernt habe. Dazu dessen Leidensgeschichte, die Enttäuschung über Kohl, das Attentat, das Mobbing durch Merkel. Schäuble habe so etwas Melancholisches, konstatierte Schlingensief, auf diese Weise würde er sich mit ihm verbunden fühlen.

Schäuble als Beautiful Loser? Wenn die Relationen dermaßen durcheinandergeraten, muss das der Ausdruck einer tiefen Identitäts- und Schaffenskrise sein. Dass Schlingensief vor lauter Mitgefühl für Schicksalsschläge vergisst, dass Schäuble immerhin amtierender deutscher Innenminister ist, finde ich erstaunlich. Ein Politiker, der gegen vernünftige Einbürgerungsgesetze übel gehetzt hat und Angst vor islamistischem Terror schürt, damit die Bundeswehr endlich mal Polizei spielen darf – da verständnisvoll zu sein, menschliche Nähe zu spüren? Das passt ja prima zur zeitgenössischen Hitler-Darstellung von Bruno Ganz in „Der Untergang“. Nicht, um Schäuble etwa in die Nähe von Hitler oder Ganz zu rücken. Nein, bei „Der Untergang“ geht es ja auch nicht um Politik, da geht es vor allem um das „Menschliche“, das da als neuer „Realismus“ verkauft wird. Melancholie im Führerbunker.

Offensichtlich hat Schlingensief das wunderbare neue Buch von Dietrich Kuhlbrodt nicht gelesen: „Deutsches Filmwunder: Nazis immer besser“. Da fände er jetzt alles, was er benötigen würde, um Schäubles Melancholie total Scheiße zu finden – und Heinz Rühmanns Rührseligkeit gleich mit dazu. Er brauchte dafür nicht einmal nach Schäubles alten Pullovern zu forschen oder nach dem Wert seiner Villa.

Wie ich aus isländischen Quellen vernahm, begegneten im Mai 2005 die Isländer dem für ein weiteres Projekt „Heil Hitler“ rufenden fünften Beatle Klaus Beyer und dem lautstark gegen den Kárahnjúkar-Staudamm protestierenden Christof Schlingensief mit ziemlichem Gleichmut. Haben sie damit die Gefühle geweckt, die Schlingensief nun in die Arme von Lady Di treibt? Ihre Flucht vor der kollektiven Liebe des Publikums und seiner Paparazzi war vor zwei Wochen in der Volksbühne zu sehen. Jetzt hat die Londoner Kunstmesse Frieze das Installationsspektakel abgelehnt und Schlingensief damit zu einem neuen Skandal verholfen. Wobei er als Künstler von Hauser & Wirth aus Zürich vertreten wird – also jener Galerie, die weite Teile der Flick-Sammlung bestückt hat. Lady Di’s angewester Körper ist den Erwartungen jedenfalls völlig ausgeliefert. Ist Liebe tatsächlich das Gegenteil von Hass?

Die Melancholie, die Schlingensief bei sich empfindet, zeigt das Bild eines sich schwach stellenden Mannes. Eine Möglichkeit, um eigene Widersprüche nicht spüren und austragen zu müssen. Ob die Maske der Melancholie irgendwann dazu führt, dass sich Schlingensief völlig in den öden Mechanismen des Kulturbetriebs verheddert oder er einfach nur erschöpft in die Arme der CDU sinkt, weiß niemand. Alles ist möglich. Nach der Romantik der Revolution folgt die Nostalgie der Macht.