Frühwarnsystem fürs Bierzelt


Für Rowdys ist die Anschaffung einer Waffe praktischer als das mühsame Erlernen der Kampfsportart WingTsun

AUS WUPPERTAL LUTZ DEBUS

Ein Zwei-Meter-Mann, breit, muskulös, schreit einen Hänfling an: „Du Arschloch! Du Wichser!“ Es folgen weitere Kraftausdrücke, die sogar einen französischen Fußballprofi aus dem seelischen Gleichgewicht bringen könnten. Der Schmächtige hat Brillengläser wie Murmeln. Leicht geduckt weicht er ein paar Schritte zurück. Dann ruft er laut: „Lass mich in Ruhe!“ Dies sogar drei, vier Mal. Immer den gleichen Satz. Doch der Riese reagiert nicht, kommt sogar bedrohlich näher. Plötzlich schlägt der Kleine auf den Großen ein. Immer ins Gesicht. Der Getroffene krümmt sich. Da klemmt der mit der Brille den Kopf seines Gegners unter die Achselhöhle. Mit schnellen Bewegungen hämmert er seinen Ellbogen in die Rippen des großen Mannes. Zum Abschluß zieht er sein Knie noch hoch, trifft die Nase des Anderen.

Die Szene ist gestellt. Aber so ähnlich, sagt der WingTsun-Trainer Thomas Hüttemann, könnte eine eskalierende Situation in einem Bierzelt aussehen. Und in solch einem Fall sei der Kampfsport WingTsun für ansonsten Unterlegene genau das Richtige. Sechs Männer sind an diesem Vormittag in die umgebaute Industriehalle in Wuppertal-Barmen gekommen. In Paarübungen bewegen sie sich auf den Matten, tänzeln um einander, wiederholen die immer gleichen Bewegungsabläufe. An einer Seite der Halle hängt ein bodentiefer Spiegel. Wie im Ballett kontrollieren die Schüler ihre Haltung. Als hielten sie das Lenkrad eines Rennwagens, bewegen sich die Hände vor denen des Gegners, lauern sie auf den richtigen Moment. Zuweilen sieht es sogar aus, als würden die sich Gegenüberstehenden gemeinsam einen unsichtbaren Würfel heben. Plötzlich überrascht einer der beiden den anderen mit schnellen geraden Schlägen ins Gesicht.

WingTsun, so erzählt Thomas Hüttemann, wurde vor etwa 250 Jahren in China von einer buddistischen Nonne entwickelt, damit sich die Schwachen, besonders die Frauen, bei kriegerischen Auseinandersetzungen besser schützen konnten. So ist der Frauenanteil beim Training in Barmen in der Regel recht hoch, obwohl heute zufällig nur Männer gekommen sind. Sowohl gemischte wie auch reine Frauengruppen bietet die Schule in Barmen an. Es genüge eben nicht, die in Selbstbehauptungskursen erlernte psychische Ausstrahlung zu zeigen, sagt Hüttemann. Manchmal müsse man Worten auch Taten folgen lassen. Und diese Taten lerne man beim WingTsun. Andere fernöstliche Kampfsportarten hätten den Nachteil, dass sie von einem Gegner ausgehen, der sich an die Regeln hält, die gleiche Technik benutzt. Deshalb seien Karate, Judo und Taek-Won-Do zwar spannende Sportarten, für den Einsatz in dunklen Seitenstraßen aber ungeeignet. Aus diesem Grund werden im WingTsun auch kaum Tritte benutzt, um sich zu verteidigen. „Auf einem Bein stehend, rutscht man schnell in einer Bierpfütze auf der Tanzfläche einer Disco aus.“

Gefährlich, so Hüttemann, sei das Training nicht. „Hier passiert weniger als beim Fußball.“ Sei das Wasser – so lautet ein WingTsun-Lehrsatz. Tatsächlich wirken die Bewegungen der Kämpfer zart und anmutig. Wenn eine Auseinandersetzung beginnt, versucht der Wing-Tsun-Kämpfer, zu seinem Gegner Körperkontakt herzustellen. Es sieht zunächst fast zärtlich aus, zumindest beschwichtigend, wenn ein Kämpfer seinem Gegenüber die Hand auf den Oberarm legt.

Dies hat aber einen ganz pragmatischen Grund. Durch solch sinnliche Wahrnehmung könne man, so erklärt Hüttemann, viel schneller reagieren, als wenn man sich nur auf das verlassen würde, was man sieht. Das Frühwarnsystem funktioniere so besser. Mit ausreichendem Körperkontakt könne man sogar mit geschlossenen Augen kämpfen. Die kleinsten Bewegungen des Gegners ließen sich mit viel Übung erspüren. Natürlich, sagt Hüttemann, trainiere man nur für den Verteidigungsfall. Das klingt zunächst seltsam. Schließlich drischt gerade ein junger Mann mit Pferdeschwanz mit ganzer Kraft auf seinen Gegner ein. Der sieht sich zwar mit einem dicken Schaumstoffhandschuh konfrontiert. Aber ohne diesen würde es ihm schlecht ergehen. Mit hochrotem Kopf wehrt er die auf ihn niederprasselnden Schläge ab. WingTsun will trotzdem kein Sport für Brutalos sein, erklärt Thomas Hüttemann. In dem eingangs gezeigten Szenario werde trainiert, erst dann zuzuschlagen, wenn der Gegner trotz entsprechender Aufforderung weiter auf einen zugeht. Dies sei für eventuell folgende Gerichtsverhandlungen wichtig, um nicht als Angreifer dazustehen, sondern erwiesener Maßen in Notwehr gehandelt zu haben.

Es genügt nicht, die in Selbstbehauptungskursen erlernte psychische Ausstrahlung zu zeigen

Was aber, wenn sich Gewalttäter durch WingTsun sozusagen fortbilden? In NRW gibt es mittlerweile 200 WingTsun-Schulen, also quasi in jeder Kleinstadt. Die Kriminalpolizeiliche Beratungsstelle in Düsseldorf gibt auf Anfrage Entwarnung. Die Disziplin und Ausdauer, die bei asiatischen Kampfsportarten nötig ist, sei nichts für Rowdys. Für Kriminelle sei die Anschaffung einer Handfeuerwaffe doch viel einfacher und praktischer, als jahrelang und mühevoll WingTsun zu lernen. Letztlich sei solch ein Kampfsport neutral zu bewerten. „Da müssten wir ja sonst auch Küchenmesser verbieten“, erklärt der diensthabende Beamte. Viele Polizisten seien übrigens begeisterte Kampfsportler.

Auch das Internetportal der Europäischen WingTsun Organisation (EWTO) geht auf diese Frage ein. Besonders Gewaltopfern solle man Unterstützung geben und ihnen in der WingTsun-Schule einen Schutzraum schaffen. Andere Internetseiten über WingTsun hinterlassen allerdings einen fahlen Beigeschmack. Gleich auf der Startseite der EWTO beschreibt ein Teilnehmer eines Wochenendes seine unvergesslichen Erlebnisse mit seinem Lehrer, einem ehemaligen Elite-Fallschirmjäger der NVA. Ost-Nostalgie trifft hier auf Fernost-Romantik.

Auch ein Foto auf der Homepage des WingTsun-Trainingcenters in Neuss macht stutzig. Da beugt sich ein erwachsener Mann über ein auf einer Turnmatte liegendes Kind und würgt es. Der rothaarige Lockenkopf schlägt zeitgleich mit der kleinen Faust auf die Nase seines Gegners. Ob Gewalt gegen Kinder so einfach aus der Welt zu schaffen ist? Auch sind die Organisationsstrukturen der EWTO nicht gerade demokratisch. Die EWTO ist Teil einer GmbH, dessen Geschäftsführer der Großmeister für Europa, Keith R. Kernspecht ist. Und sein Portrait hängt gerahmt in jeder angeschlossenen Schule. Auf das Stichwort „Prügelnde Baghwans“ reagiert Thomas Hüttemann mit einem asiatisch anmutenden Lächeln. Zumindest bezüglich der Fortbildung krimineller Rambos kann in Barmen Entwarnung gegeben werden. Das Erscheinungsbild der Männer, die an diesem Tag trainieren, bestätigt, dass hier nicht Schlägertypen ihren letzten technischen Schliff erhalten. Eher klein und schmächtig sind die Schüler. Auch der Zwei-Meter-Mann macht, wenn er nicht gerade den Bösewicht mimt, den Eindruck eines freundlichen Bankangestellten. Von Beruf sind die versammelten Herren Erzieher, Altenpfleger und Sozialarbeiter. „Für manche“, sagt Thomas Hüttemann, „ist Wing-Tsun einfach nur ein Ventil.“