Der vergessene Krieg

RUSSLAND Zu Sowjetzeiten war 1914 aus der Erinnerung getilgt. 2014 ändert sich das mit zwiespältigem Effekt

Die Erinnerung an 1914 macht es leichter, das schwierige Revolutionsjubiläum 1917 zu umschiffen

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Der Erste Weltkrieg war zu Sowjetzeiten ein vergessener Krieg. Wo es dennoch Orte und Momente der Erinnerung gab, wurden sie im Nachhinein systematisch getilgt. Nichts erinnert mehr an die hunderttausend Toten der Armee des Zaren auf den Schlachtfeldern in Ostpreußen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts begann in Russland mit der Oktoberrevolution der Bolschewiki 1917. „Was die alte Macht geleistet hatte, konnte per se nichts Gutes sein“, so der Historiker Jurij Piwowarow von der Russischen Akademie der Wissenschaften. „Im kollektiven Gedächtnis blieb nur haften, dass Russland den Krieg verloren hatte.“

Doch das offizielle Moskau steuert seit einiger Zeit einen neuen geschichtspolitischen Kurs. Im Jahr 2014 nimmt auch Russland an den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag teil – zumindest war es bis zur Annexion der Krim so geplant. In Zarskoje Selo bei Sankt Petersburg soll ein großes Museum eröffnet werden, landesweit werden neue Standorte für Denkmäler gesucht. Eine Kommission aus Wissenschaftlern und Beamten unter Leitung des Dumavorsitzenden Sergej Naryschkin koordiniert die Feierlichkeiten.

Es geht dabei um mehr, als nur einen verschwiegenen Krieg in die Erinnerung zurückzuholen. Der Krieg muss in die nationale Geschichte, die im Verständnis der Putin-Ära im glorreichen Sieg 1945 gipfelte, eingeschrieben werden. Der „Große Vaterländische“ – wie der Zweite Weltkrieg in Russland heißt – ist der einzige positive Bezugspunkt der jüngeren Geschichte, der Identität stiftet und mit dem das Regime seine Legitimität zu untermauern versucht.

Das Erinnern des Kriegsausbruchs 1914 erleichtert der politischen Führung, vor allem das Jubiläum der Revolution 1917 zu umschiffen. Für den Exgeheimdienstler, Exkommunisten und heutigen Präsidenten Wladimir Putin dürfte es schwierig sein, den Griff seiner Ahnen nach der Macht geradeheraus zu kritisieren. Da ist es einfacher, 1914 als Jahrhundertereignis zu inszenieren und die Revolution aus der Schusslinie zu nehmen.

Lenins Separatfrieden mit dem Deutschen Reich in Brest-Litowsk, der Russland einen beträchtlichen Teil des europäischen Territoriums kostete, kann in diesem Zusammenhang nicht ganz unterschlagen werden. Putin gab die Losung vor, der Frieden sei Ergebnis „eines nationalen Verrats der damaligen Landesführung“ gewesen. Diesen Fehler habe die Sowjetunion jedoch durch den Sieg 1945 wieder wettgemacht. Mithin bleibt die Geschichte glorreich.

Kurzum: Der Erste Weltkrieg erscheint in der neuen Lesart als Ereignis, das das wirtschaftlich florierende Vorkriegsrussland zur Bedeutungslosigkeit degradierte. Der Krieg und seine Folgen haben Russland an den Rand gedrängt und in die Isolation getrieben.

Das entspricht nicht zufällig der außenpolitischen Linie 2014.