Klassenkampf im Schützengraben

GEDÄCHTNIS Britische Konservative empören sich, wenn Komiker böse Scherze über das sinnlose Sterben machen. Es geht um den richtigen Platz des Ersten Weltkriegs im nationalen Gedächtnis. Eine Debatte, die überall in Europa geführt wird

AUS SHEFFIELD BENJAMIN ZIEMANN

Eine Szene des Films „Der Sinn des Lebens“ von der Komikergruppe Monty Python (1983) spielt im Schützengraben des Ersten Weltkriegs. Vor dem Angriff überreicht ein Trupp einfacher Soldaten ihrem Hauptmann Geschenke, neben Uhren einen mit Liebe gebackenen Kuchen. Doch als der Hauptmann die Geschenke ignoriert, bricht der tiefsitzende Hass der Tommys auf den elitären „Toff“ hervor. Ein Streit entsteht, man gestikuliert, hebt die Köpfe über die Grabenböschung. Noch bevor ein Stück des Kuchens verzehrt ist, sind alle Männer tot.

Der Erste Weltkrieg taugt in Großbritannien als Anlass für bittere Scherze: „The Great War“ ist wie kein anderer historischer Wendepunkt mit Bedeutung aufgeladen. Am Remembrance Sunday im November gedenkt das ganze Land um Punkt 11 Uhr mit zwei Schweigeminuten des Waffenstillstands am 11. 11. 1918. In den Wochen davor verkauft die British Legion eine stilisierte Mohnblume als Anstecker. Der Poppy erinnert an die Schlachtfelder in Belgien, und jeder Fernsehmoderator muss ihn bis zum 11. November am Revers tragen. Bis zum Jahr 2019 gibt die britische Regierung Millionen aus, dass Schulklassen die Schlachtfelder an der Somme und bei Ypern besichtigen.

Doch Szenen wie die von Monty Python treffen einen wunden Punkt. Denn sie zeigen den Ersten Weltkrieg als ein brutales, sinnloses Schlachten ohne jedes konkrete politische oder militärische Ziel. Zudem spielen sie mit der britischen Obsession für die Differenz zwischen den Klassen. Und nirgends trat die Distanz zwischen Upper Class und einfachen Leuten plastischer hervor als im Rangunterschied von Offizier und Muschkote 1914–1918.

Der konservative Erziehungsminister Michael Gove hatte Monty Python und andere Fernsehserien vor Augen, als er im Januar 2014 in der Daily Mail zu einem Rundumschlag gegen „linke“ Mythen des Ersten Weltkriegs in der britischen Erinnerungskultur ausholte. Denn mit der Betonung des sinnlosen Sterbens werde, so Gove, die Tapferkeit von Soldaten und Generälen geschmälert und die wichtigste Wahrheit vergessen: Dass die Briten einen gerechten Krieg gegen das deutsches Kaiserreich kämpften, das durch seine expansiven Kriegsziele und brutale Besatzungspolitik die Freiheit in Europa bedrohte. Die Briten sollten, so meint Michael Gove, stolz und dankbar an den Weltkrieg denken.

Die Kontroversen im Vereinigten Königreich sind ein Beispiel für einen Trend. Denn überall in Europa wird gegenwärtig über den richtigen Platz des Ersten Weltkriegs im nationalen Gedächtnis gestritten.

In Deutschland bewegt man sich dabei auf wenig vertrautem Terrain. Denn hier stand in der Geschichtspolitik wie im kollektiven Gedächtnis der Zweite Weltkrieg im Vordergrund. Das wird auch nach Abschluss der Hundertjahrfeiern Ende 2018 so bleiben. Doch auch hierzulande deutet sich an, dass manche das Interesse an der Erinnerung zu einer Neujustierung der nationalen Identität nutzen möchten; und so ähnlich wie Michael Gove mit einer Attacke gegen angebliche linksliberale Geschichtsmythen.

Ein Indiz dafür ist etwa das Pamphlet jungkonservativer Historiker um den Bonner Ordinarius Dominik Geppert, das die Welt veröffentlichte. Die Verfasser geißeln eine verfehlte „Selbstbezichtigung“ der Deutschen, die immer noch akzeptieren würden, dass das Kaiserreich die Hauptschuld am Krieg trage. Dabei seien die Thesen von Fritz Fischer, der in den 1960er Jahren vom „Griff nach der Weltmacht“ sprach, heute widerlegt. Nötig sei die Einsicht, so die Verfasser, dass ein liberaler und damit gewissermaßen gesunder Nationalismus heute in der EU auch für die Deutschen unverzichtbar sei. Und da ja – so zieht man rasch die Lehre aus Christopher Clarks „Schlafwandlern“ – schließlich alle Großmächte aktiv zum Krieg beigetragen hätten, bräuchten sich die Deutschen nun auch nicht mehr hinter einem falsch verstandenen Pazifismus zu verbergen.

Nun ist unter Historikern seit zwanzig Jahren Konsens, dass von deutscher Alleinschuld zu reden weit überzogen ist. Doch daraus abzuleiten, dass das von „Einkreisungssorgen“ geplagte Kaiserreich nur „defensive Ziele“ verfolgt habe, ist eine groteske Verzeichnung der historischen Realität.

Paradoxerweise bestätigt das Manifest von Geppert gerade das, was es kritisieren will – nämlich die „Selbstbezogenheit“ der deutschen Erinnerungspolitik. So wie es in Großbritannien vor allem um das Leiden an der Klassengesellschaft und den bedauerlichen Niedergang des Empire geht, steht hierzulande immer wieder die politisch-moralische Schuld der Deutschen im Mittelpunkt, und zwar gerade bei jenen, die diese nun für den Ersten Weltkrieg relativieren wollen. Darin zeigt sich, dass die Jahre 1914 bis 1918 für viele nur eine Leinwand darstellen, auf die sich Probleme der nationalen Identität projizieren lassen. Das Gleiche gilt im Übrigen für Belgien, wo es lange gedauert hat, bis eine Flandern und Wallonien übergreifende Planung für die Gedenkfeiern stattfand.

Gerade in der Rückschau auf die Zeit vor 1945 wird deutlich, welch eine Engführung auf die nationale Nabelschau die gegenwärtige Debatte kennzeichnet. Denn bis weit in die 1930er Jahre hinein war die Pflege der Erinnerung an den Weltkrieg eine grenzüberschreitende Angelegenheit, bei der gleichgesinnte Akteure aus verschiedenen Ländern mitwirkten.

Das galt etwa für Katholiken aus Deutschland und Frankreich, die sich nach 1918 um eine Aussöhnung zwischen den verfeindeten Nationen bemühten. Noch ausgeprägter war diese Tendenz bei den Kriegsveteranen. Seit 1926 koordinierte die sogenannte CIAMAC als Dachverband die Arbeit von 24 Veteranenverbänden in zehn Ländern. Dazu gehörte auch der Reichsbund der Kriegsbeschädigten und Kriegerwitwen, den der jüdische Sozialdemokrat Erich Kuttner 1917 gegründet hatte (und der stark verändert als „Sozialverband“ noch heute besteht).

Auf französischer Seite forcierte Frontkämpfer, Jude und Jurist René Cassin (1887–1976) das gemeinsame Gedenken. Cassin entwickelte aus seinem Fronterlebnis die Forderung nach universalen Menschenrechten, die 1945 bei der Gründung der UNO maßgebend war.

Solche internationalen Kontakte waren nicht nur trockene Gespräche zwischen farblosen Verbandsbürokraten, sondern Feste der Völkerverständigung. Als der französische Pazifist Henri Dumont im Frühjahr 1929 in mehreren deutschen Städten sprach, stellte der Reichsbund nicht nur sicher, dass ihm Tausende zuhörten. Wo immer er sprach, war das Rednerpult mit der Trikolore geschmückt, und ein Orchester spielte die Marseillaise. Der Niedergang der geschlossenen Sozialkulturen von Katholiken und Sozialisten nach 1945 hat die Basis für solche auf Solidarität beruhenden Gedenkrituale und Begegnungen zerstört.

Und heute? Worin besteht die Relevanz der Erinnerung an den Weltkrieg 2014 noch? Gewiss nicht in dem Versuch, historischen Verantwortung zu vernebeln, gerade sofern es Deutschland betrifft. Viel wichtiger ist es, die Entgrenzung der Gewalt – die sich in der Tötung von 6.000 belgischen Zivilisten durch deutsche Truppen 1914 ebenso zeigte wie in der Misshandlung von Kriegsgefangenen – neben den Widerstand gegen Gewalt und Krieg zu stellen.

Das Beispiel der fusillés ist hier aufschlussreich, also jener 600 Soldaten, die die französische Militärjustiz zur Abschreckung hinrichtete. Der Platz dieser Soldaten im kollektiven Gedächtnis Frankreichs war stets umstritten. Nun zeichnet sich ab, dass auch die fusillés einen festen Platz, und zwar ganz handfest als nationaler Gedenkort im Zentrum von Paris, in der Erinnerung der Franzosen bekommen werden.

Ein anderer Trend ist gegenwärtig in Deutschland, Frankreich und Großbritannien gleichermaßen zu erkennen: die regionalen Verankerung und Pluralisierung der Erinnerung. Diese wird von einer Vielzahl lokaler Initiativen, Gruppen und Museen getragen. Damit entsteht ein vielschichtiges Bild des Weltkriegs, das neben den Soldaten auch Frauen und Jugendliche in den Blick nimmt.

Damit wird die internationale Dimension des Kriegs nicht nebensächlich – aber gebrochen und reflektiert im Fokus einer je spezifischen Region oder Zugangsweise. Das ist allemal ergiebiger als das Widerkäuen nationaler Geschichtserzählungen, die seit den 1920er Jahren konserviert worden sind.

■ Benjamin Ziemann lehrt Neuere Deutsche Geschichte an der University of Sheffield. Im Juni erscheint sein Buch: „Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933“ bei J. H. W. Dietz Nachf.