berliner szenen Quadratisch, klimatisch

Höhere Schokologie

Goodbye, friesische Sommerfrische: Kurz hinter Hamburg fällt im ICE die Klimaanlage aus. Während kühle Meeresluft durch Ostelbien strömt, herrscht Beachparty-Atmosphäre im hermetisch abgeschlossenen Großraumwagen. Der Schaffner scheint am meisten zu schwitzen in seiner rotblauen Montur und fantasiert schon von mobilen Kaltgetränken, die außerplanmäßig zusteigen würden.

Eine Zeitlang fächere ich mir mit der DB-Kundenzeitschrift Luft zu. Dann halte ich es nicht mehr aus und verlasse den Waggon in Richtung Raucherabteil. Dort funktioniert die Klimaanlage, kein Wunder, sonst wären die Leute wohl längst erstickt. Asthmatisch hustend weiche ich zurück und setze mich im Verbindungsgang auf den Fußboden, neben eine Frau mit kurzen roten Haaren, die gerade mit einer weich gewordenen Tafel Rittersport kämpft. Sie kommt aus St. Pauli und arbeitet für eine Marketingfirma.

Während ich den restlichen Inhalt der quadratischen Packung aufesse, erzählt sie, in ihrer Firma gebe es einen klimatisierten Testraum, in dem ausprobiert wird, wie der Endverbraucher bei unterschiedlichen Temperaturen auf Gummibärchen, Cola oder Schokolade reagiert. Keine schlechte Idee in Zeiten des Klimawandels. Wir reden über Schokologie als Forschungsgebiet, schmelzende Polkappen, über den Einfluss von Haarspray aufs Wetter und die sozialhistorischen Hintergründe von 80er-Jahre-Frisuren. In Spandau steigt sie schließlich aus, und der ICE rumpelt weiter in Richtung Stadtmitte. In meinen Händen knistert eine leere Packung Rittersport Erdnuss Flakes, es ist die WM-Version mit den lachenden Fußballfans. Ich habe die Schokoforscherin gar nicht nach ihrem Namen gefragt. ANSGAR WARNER