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Archiv-Artikel

Wie Bremen den Run aufs Gymnasium stoppte

SCHULLANDSCHAFT In Bremen haben SPD und CDU einen Kompromiss ausgehandelt, wonach nur 20 Prozent der Kinder ein Gymnasien besuchen sollen. Diese genießen dafür Bestandsschutz. Für den großen Rest sind vor allem die sogenannten Oberschulen zuständig. Das Recht der Eltern, die Schule zu wählen, ist stark eingeschränkt, es zählt vor allem die Leistung in der Grundschule

Von KAWE

Pisa ist die Quittung für das, was die SPD seit 1947 bildungspolitisch zu verantworten hat.“ Mit diesem Satz reagierte im Jahre 2002 Bremens damaliger Regierungschef Henning Scherf (SPD), der selbst fünf Jahre Bildungssenator gewesen war, auf den ersten großen „Pisa-Schock“: Bremen war Schlusslicht in dem bundesweiten Leistungs-Ranking.

Was hatte die Bremer SPD „seit 1947“ gemacht? Bremen hatte lange auf die sechsjährige Grundschule gesetzt. In seiner Regierungserklärung von 1971 kündigte Bürgermeister Hans Koschnick dann an, dass die integrierte Gesamtschule zur Regelschule werden solle, im Schulgesetz von 1975 wurde sie zum verfassungsrechtlichen „Ziel“ der bremischen Schulpolitik erklärt. Der entscheidende Punkt damals – wie heute: Die Gymnasial-SchülerInnen sollten in die Gesamtschulen integriert werden – gegen den erbitterten Widerstand der bildungsbürgerlichen Kreise der Stadt versuchte die Bremer SPD, ein traditionelles Gymnasium nach dem anderen zu schließen.

Nach ein paar Jahren folgte die Ernüchterung: Selbst gut meinende Sozialdemokraten meldeten ihre Kinder von „ihrer“ Gesamtschule ab. Die beiden bremischen Vorzeige-Gesamtschulen waren in Gefahr, zu Restschulen in Problem-Stadtteilen zu werden. Die Bremer SPD entwarf daraufhin eine Schulstruktur, die eine „horizontale“ Gliederung vorsah: Mittelstufen-Schüler sollten in „Sekundarschul-I“-Zentren (Sek-I) mit Haupt-, Real- und Gymnasialklassen unter einem Dach zusammengefasst werden, Berufsschüler und Gymnasiasten sollten in „Sek-II“ integriert werden. Insbesondere an den Sek-II-Zentren war meist nur der Schulhof „integriert“.

Es waren die Grünen und die FDP in der „Ampel-Koalition“, die 1991 diese Schulpolitik der SPD beendeten: Die Grünen setzten unter dem Etikett „Integrierte Stadtteilschule“ die Einführung von Gesamtschulen eines neuen Typs durch, die FDP forderte den Bestandsschutz für eine kleine Anzahl von Gymnasien und sogar eine Neugründung. Die Bremer Schullandschaft war bunter denn je, die alte SPD-Idee stand nur noch auf dem Papier. Die Gesamtschule wurde aus der Landesverfassung gestrichen.

Und dann kam 2002 der „Pisa-Schock“. „Am schlimmsten war, dass wir trotz der gut gemeinten und aufwendigen Hilfen für sozial Benachteiligte selbst im unteren Bereich die schlechtesten Ergebnisse eingefahren haben“, erklärte die bildungspolitische Sprecherin der SPD, Ulrike Hövelmann. Elf Prozent der Schüler machten nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Es komme auf den Unterricht an, nicht auf die Schulform, verkündete Bildungssenator Willy Lemke (SPD) – und verteidigte so die strukturelle Vielfalt. Der „Elternwille“ sollte entscheiden, welche Schulen wachsen und welche schrumpfen sollten. Als Sigmar Gabriel (SPD) in Niedersachsen 2004 das Ende der Orientierungsstufe verkündete, in der die Klassen 5 und 6 gemeinsam unterrichtet wurden, schloss sich Bremen an.

Im Jahre 2007 wurde Renate Jürgens-Pieper (SPD) Bildungssenatorin in Bremen, eine überzeugte Anhängerin der Gesamtschule-Idee. Sie wusste aus ihrer Zeit in Niedersachsen, wo sie fünf Jahre lang Kultusministerin gewesen war, dass man in der Schulpolitik nicht durchregieren kann. So schloss sie mit der Bremer CDU einen „Schulfrieden“-Kompromiss: Die acht bestehenden Gymnasien sollten „Bestandsschutz“ haben – für rund 20 Prozent der SchülerInnen. Als bundesweit das Turbo-Abi G 8 eingeführt wurde, wurde den Bremer Gymnasien nicht gestattet, parallel weiter G 9-Angebote zu machen – um den Run auf die Gymnasien zu bremsen.

Jürgens-Pieper verkündete das Ende der „Stufen-Schulen“: Sie war davon überzeugt, dass integrierte Schulsysteme für potenzielle Gymnasial-Schüler nur attraktiv sein könnten, wenn sie den Weg zum Abitur öffneten. Auch die Gesamtschulen, die in Bremen bis dahin mit der zehnten Klasse endeten, sollten eine Oberstufe oder zumindest eine geregelte Abitur-Perspektive bekommen.

In diesem „Schulfrieden“-Abkommen wurde auch geklärt, dass der Zugang zu den Gymnasien in erster Linie von der Leistung in der Grundschule abhängen sollte – die „freie Schulwahl“ nach dem Elternwillen wurde deutlich eingeschränkt. Die „Oberschulen“ sollten gleichzeitig bis zu einem Drittel bevorzugt Kinder mit Gymnasial-Empfehlung aufnehmen können, um die Entstehung von „Rest-Schulen“ zu vermeiden. Im 9. und 10. Jahrgang sollte es in der Regel Kurse auf verschiedenen Leistungsniveaus geben.

Der „Bremer Konsens zur Schulentwicklung“, den SPD und CDU im Jahre 2009 unterschrieben, soll bis zum Jahr 2019 gelten und einen erneuten Parteienstreit vermeiden. Der „Frieden“ verhindert aber nicht kleine Nickeleien. Auch in Bremen werden Gymnasien von der sozialdemokratisch geführten Bildungsbehörde mit einem schlechteren Personalschlüssel ausgestattet. Und G 9 an Gymnasien will Bremen nicht wieder erlauben: Es würde zusätzliche Lehrer kosten und die Gymnasien attraktiver machen.

Nur einer der acht „garantierten“ Gymnasialstandorte darf G 9-Züge anbieten – aber dieses Schulzentrum ist von seiner Schülerstruktur her de facto eine Oberschule und hat auch den guten Personalschlüssel der Oberschulen bekommen. Das Lieblingskind des seit 1947 SPD-geführten Schulressorts, das spürt man selbst in Fragen der Bausanierung, ist die „Oberschule für alle“.

An den Bremer Pisa-Ergebnissen hat sich allerdings wenig geändert. Das Problem sind, so ergeben Detailanalysen, die vielen SchülerInnen mit Migrationshintergrund. Und deren Anteil an der Schülerschaft von Großstädten wächst weiter.  KAWE