: „Man muss angemessen behandeln“
ALTERSMEDIZIN Der Hamburger Gerontologe Wolfgang von Renteln-Kruse plädiert für eine qualifizierte Behandlung bis ins hohe Alter. Denn zur medizinische Versorgung gehöre nicht nur das Heilen, sondern auch das Lindern chronischer Krankheiten
■ der 57-Jährige ist seit 2002 Chefarzt der geriatrischen Klinik im Albertinenkrankenhaus. Foto: Albertinenhaus
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Herr von Renteln-Kruse, womit befasst sich Geriatrie?
Wolfgang von Renteln-Kruse: Hauptmerkmal geriatrischer Medizin ist, dass sie zusätzlich zur medizinischen Diagnostik immer fragt: Welches sind die Auswirkungen von Erkrankungen auf die Lebensführung älterer Menschen? Denn das ist ja das, was den individuellen Patienten interessiert: Wie komme ich im Alltag mit oder trotz meiner – körperlichen oder psychischen – Erkrankung, die ja meist chronisch ist, zurecht? Wie kann ich meine Selbstständigkeit behalten?
Welche Krankheiten treten speziell im Alter auf?
Das sind am häufigsten Herz-Kreislauf-Erkrankungen – Bluthochdruck und Schlaganfall etwa – sowie Erkrankungen des Bewegungsapparats, das heißt: Verschleißerkrankungen der Gelenke. Häufig sind auch Verletzungen nach einem Sturz sowie psychische Erkrankungen: Depression und Demenzen im sehr hohen Lebensalter.
Lassen sich altersbedingte Krankheiten vermeiden?
Den allermeisten Krankheiten kann man vorbeugen. Die Risikofaktoren etwa für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind ja bekannt und der Prävention zugänglich.
Kann man auch psychischen Alterskrankheiten vorbeugen?
Ja. Denn es gibt ein ganzes Bündel von Faktoren, die zu einer Depression führen, an denen man ansetzen kann. Und man weiß inzwischen auch, dass es schützende Faktoren gibt, mit denen man bestimmten Demenzformen vorbeugen kann.
Was kann man konkret tun?
Man kann zum Beispiel erhöhten Bluthochdruck medikamentös behandeln, aber auch die Lebensführung spielt eine wichtige Rolle. Es geht um die Frage, wie man möglichst gesund an Körper und Seele ins Alter kommt. Dabei gibt es drei wichtige Bereiche: körperliche Aktivität, soziale Kontakte und Ernährung. Wenn man hier beizeiten etwas tut, ist dies eine sehr gute Investition in aktives, gesund erhaltendes Altern. Es ist nie zu spät für Prävention, denn es ist bekannt, dass auch ältere Menschen ihre Beweglichkeit verbessern können.
Wie viel Prozent der Älteren sind für eine gesunde Lebensführung zugänglich?
Der Zugang zu Informationen ist hier eine zentrale Herausforderung. Es gibt die Medien, das Internet, Selbsthilfe-Initiativen und Initiativen der gesetzlichen Krankenkassen. Letztlich kommt es aber darauf an, dass die Informationen auf die Betroffenen zugeschnitten sind. Das ist schwierig, weil die Individualisierung im Alter zunimmt; eine Gruppe 80-Jähriger ist allein von der Fitness her weit heterogener als eine Gruppe 50-Jähriger. Auch hat es keinen Sinn, ohne ärztlichen Rat einfach in eine Seniorensportgruppe zu gehen. Dass ältere Menschen ihre Gewohnheiten nicht ändern können, ist allerdings ein Mythos: sowohl in puncto Bewegung als auch in puncto Ernährung ist nachgewiesen, dass sie dies können.
Wie viele ältere Leute leben denn schon „gesund“? Ist das ein Trend?
Ja, ist es. Statistiken zeigen, dass sich der Anteil der Älteren, die körperlich aktiv und mit ihrer Gesundheit zufrieden sind, kontinuierlich steigt. Es gibt auch erste Hinweise darauf, dass der Anteil der Senioren, die hilfs- und pflegebedürftig werden, nicht mehr so dramatisch zunimmt. Das ist bemerkenswert, denn auch der Gesundheitszustand der stark anwachsenden älteren Bevölkerung wird darüber entscheiden, wie unsere sozialen Sicherungssysteme in Zukunft organisiert werden und wie viel sie die Solidargemeinschaft kosten. Denn Fakt ist auch, dass aufgrund der steigenden Lebenserwartung immer mehr chronisch Kranke heute sehr alt werden. Heute ist das Überleben häufiger als vor 20 Jahren – und eben auch zum Teil verbunden mit Pflegebedürftigkeit. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird also steigen, während andererseits die Zahl der relativ gesund ins höhere Lebensalter kommenden, fitten Senioren ebenfalls steigt. Aus Befragungen, die wir auch vom Albertinen-Haus aus durchführen, wissen wir konkret: 70-Jährige fühlen sich heute so fit, wie vor zehn, 15 Jahren 60-Jährige. Ein Indiz für „erfolgreiches Altern“, sozusagen.
Und was reizt Sie persönlich an der Geriatrie? Trotz allem befast man sich ständig mit Altern und Sterben. Das klingt trotz allem trostlos.
Das finde ich gar nicht. Mich reizt diese sehr anspruchsvolle Aufgabe, die viel Erfahrung erfordert, um medizinisch das Richtige zu tun – oder auch zu lassen. Unsere Patienten sind alle mehrfach komplex erkrankt. Sie erfordern einen ganzheitlichen Ansatz und ein interdisziplinäres Team aus Pflegekräften, verschiedenen Therapeuten und Sozialdienst, denn die Geriatrie behandelt nicht einzelne Erkrankungen, sondern versucht immer, den ganzen Menschen zu sehen. Anders kann den Bedürfnissen dieser Patienten auch nicht Rechnung getragen werden. Es ist im Krankenhaus zu fragen, wo kommt der alt gewordene Mensch her, wo wird er mutmaßlich wieder hingehen können, wie sind seine Lebensbedingungen, sein familiäres, sein soziales Netz beschaffen, wer wartet auf ihn und kann eventuell unterstützen.
Belastet Sie nicht, dass es bei den vielen chronischen Krankheiten gar nicht mehr um Heilung gehen kann?
Nein. Es ist vielleicht ein Paradigmenwechsel, den man gerade als junger Arzt irgendwann vollziehen und verinnerlichen muss: Zur Medizin gehört nicht nur das Heilen, sondern auch das Lindern. Begleitung auch beim Sterben gehört natürlich auch dazu. Aber dass in der Geriatrie z. B. nur gestorben wird, ist eines von mehreren Klischees: Man kann auch alt gewordene Menschen sehr erfolgreich medizinisch behandeln und versorgen. Ich teile nicht die gar nicht zu selten noch anzutreffende Haltung, die alle Beschwerden älterer Menschen aufs hohe Lebensalter an sich zurückführt, um dann zum Beispiel zu sagen: „ Sie sind jetzt schon soundso alt, was erwarten Sie denn noch, da kann man nichts machen, damit müssen Sie leben.“ Zu entgegnen ist, dass ältere Menschen sehr gut behandelt werden können, denn auch die Linderung von Leiden ist eine notwendige und sinnvolle ärztliche Behandlung. Keine Behandlung ist für keinen Menschen – unabhängig vom Lebensalter – eine Alternative, denn es geht um angemessene Behandlung und um Lebensqualität, und zwar bis zum Lebensende.