: Sieben Sorten sind zu viel
In der Gerichtskantine Altona gibt es freitags Fisch mit Kartoffelsalat. Mit Gemüse, Obst oder Gurken nach Großmutters Rezept, je nach Gusto. Die Gäste – jung und alt – wissen es zu schätzen und kommen deshalb zahlreich. Einige seit vielen Jahren. Im immer kleiner werdenden Freundeskreis
von SILKE BIGALKE
Die große Tür zum Amtsgericht in Altona fällt schwer ins Schloss. Erna und ihre Freundin von außerhalb zucken kurz zusammen. Ohne sich umzusehen, gehen die beiden Seniorinnen ein paar Stufen hoch, rechts durch die Glastür und den Gang entlang bis zur Kantine. „Sitzt meine Frisur?“ fragt Ernas Freundin auf dem Weg und bleibt kurz stehen. Erna legt den Kopf schief. „Vorne ist gut“, sagt sie. „Lass uns mal sehen, was es heute so gibt.“
Fisch gibt es, wie jeden Freitag seit 14 Jahren – gebratenes Seelachsfilet mit vier Sorten Kartoffelsalat zur Auswahl. Freitags steht die Frau des Küchenchefs, Andrea Paulsen, an der Essensausgabe und hilft den Gästen bei der Entscheidung: ohne Mayonnaise mit Gurken, Tomaten und Kräutern. Oder das Gleiche mit Mayonnaise. Kartoffelsalat mit Speck. Oder mit Gurken, Ei und Äpfeln. Wer keinen Kartoffelsalat mag, bekommt Salzkartoffeln. Die meisten Besucher entscheiden sich aber für den Specksalat, verrät Paulsen. Dazu gehen jeden Freitag 250 Fischfilets über den Tresen.
Für den Seelachs kommt die 72-jährige Magdalena jeden Freitag von der Königstraße ins Amtsgericht. „Sonst bin ich oft schon um halb zwölf hier“, sagt sie. „Aber heute musste ich vorher zu einer Trauerfeier.“ Zum Glück sei es nicht so voll wie sonst. Magdalena rückt ihre goldene Brille zurecht. Mit ihrer weißen Sonntagsbluse muss sie beim Essen besonders aufpassen. Dass viele Senioren Stammgäste in der Kantine sind, ist ihr bisher nicht aufgefallen. „Hier trifft man jeden, sogar Feuerwehrmänner und Schornsteinfeger“, sagt sie. „Nur Fisch muss man schon mögen.“
Magdalena schaut zur Eingangstür. Um 12.30 Uhr reicht die Menschenschlange vor der Essensausgabe bis auf den Flur hinaus. An den Salaten vorbei den engen Gang entlang schieben sich die Hungrigen in den Speisesaal. Dass die haselnussbraunen Stühle so gar nicht zum dunkelgrauen Boden passen, stört hier niemanden. Die einfachen Vasen mit den gemischten Plastikblümchen auf jedem zweiten Tisch werden einfach beiseite geschoben: Die sperrigen gelben Kantinentabletts brauchen Platz.
Ein Damen-Quartett lässt sich an Magdalenas Nachbartisch nieder. „Mayonnaise vertrage ich ja gar nicht“, sagt eine der Frauen. „Ich mag nur die teure“, sagt eine andere. Sonst ist es still an den meisten Tischen. Nur am Eingang bricht plötzlich Unruhe aus. Ein älterer Herr hält die Schlange auf. Er hat sich zwei Portionen Kartoffelsalat in Tupperware füllen lassen und in eine Isoliertasche gepackt. Die Kantinenmitarbeiterin an der Kasse lässt ihn zum Abrechnen alles wieder auspacken.
Für Betreiber Jürgen Paulsen ist die Gerichtskantine auch eine menschliche Herausforderung. Viele Stammgäste schütten ihm ihr Herz aus. „Da kommt eine älteres Ehepaar jahrelang gemeinsam und irgendwann kommt einer alleine. Da nimmt man schon Anteil“, sagt der Koch. Seit 1992 betreibt er die Gerichtskantine, vorher hat er unter anderem für das Hotel „Vier Jahreszeiten“ gekocht.
Weil Paulsen den Kartoffelsalat nicht aus dem Eimer holt, sondern jede Sorte selbst zubereitet, steht er Freitags schon um fünf Uhr morgens in der Küche. „Mit dem Fisch mache ich keine Experimente mehr“, sagt der 56-Jährige. Einmal gab es Freitags kein Seelachsfilet, da hat er nur halb so viele Gerichte verkauft. Beim Kartoffelsalat gönnt sich Paulsen dafür Abwechslung. Wenn er gut gelaunt ist, gibt es eine Sorte mehr: Schlesischen mit Senfgurken. Das reicht dann aber auch. „Sieben Sorten waren zu viel, da sind viele Gäste auf Pellkartoffeln umgeschwenkt,“ erinnert sich Paulsen. „Wer will sich in seiner Mittagspause schon das Hirn über Kartoffelsalat zermartern?“
Erna und ihre Freundin von außerhalb haben es sich leicht gemacht und den ersten Salat auf der Liste gewählt: ohne Mayonnaise. Erna lehnt sich nach dem Essen zurück und kuschelt sich in ihre rosa Strickjacke. „Es ist schön, wieder hier zu sein.“ Ihr letzter Besuch ist zwei Monate her, so lange war sie krank. „Früher haben wir hier an diesem Tisch immer zu siebt gesessen“, sagt sie. „Die anderen sind alle weggestorben.“ Erna hat sich vorgenommen, jetzt wieder öfter in die Gerichtskantine zu kommen, nicht nur freitags. Außer Fisch isst sie nämlich leidenschaftlich gerne Kohlrouladen.