WARUM DIE AFFÄRE GRASS IMMER WEITERGEHEN MUSS
: Hofdichter mit Parteibuch

Der Perlentaucher, ein seriöses Internetportal fürs Feuilleton, meldete gestern, dass Günter Grass kürzlich seine „SS-Mitgliedschaft gestanden“ hat. Die SS war eine kriminelle Organistion, verantwortlich für die grausamsten NS-Verbrechen. Grass war 1945, in den letzten Tagen des Hitler-Regimes, mit 17 Jahren ein paar Wochen Mitglied der Waffen-SS. Diese Organisation war damals kaum von der Wehrmacht zu unterscheiden. Die Wahrscheinlichkeit, als 17-Jähriger in der Waffen-SS als Kanonenfutter zu enden, war jedenfalls groß.

In der Affäre Grass aber sind schon längst alle Katzen grau. Alle tun so, als hätte der Autor eine unsagbare persönliche Schuld verschwiegen – ohne dass es dafür ein Indiz gibt. Fakten spielen keine Rolle, historische Grundkenntnisse werden durch moralisches Armrudern ersetzt. Die Affäre muss weitergehen. Denn hier kann eine erregungsbereite Öffentlichkeit zum letzten Mal eine Moraldebatte über die NS-Zeit am lebenden Objekt führen. Die Chance lässt man sich nicht entgehen.

Grass hat Karl Schiller, meldet die FAZ, 1969 ermahnt, sich zu seiner Rolle in der NS-Zeit zu bekennen. Na und? Schiller, erwachsenes NSDAP-Mitglied, hatte dazu Grund, jedenfalls mehr als Grass, ein pubertierender Verführter, wie Hunderttausende andere. Bigott ist nicht Grass’ Umgang mit der NS-Zeit, bigott sind die Empörungsgesten. So billig wie derzeit waren sie noch nie zu haben.

Zudem wird Grass zu einer Größe aufgepumpt, die er nie hatte. Er soll das moralische Gewissen der Bundesrepublik gewesen sein. Das stimmt nicht, jedenfalls nicht jenseits von Jusokongressen. Wenn schon, dann hat Böll diese Rolle gespielt, die Gegenfigur zu Adenauer. Nun aber muss Grass überlebensgroß erscheinen – damit sein moralischer Untergang melodramatischer wirkt.

Peinlich für Grass ist in den Schiller-Briefen nicht die NS-Passage. Peinlich ist, dass er 1965 von dem Politiker verlangte, ihm Steuerschulden zu erlassen. So spricht der Hofdichter mit Parteibuch. Deshalb war Grass vielen Libertären stets suspekt. Nicht wegen der Verirrung in die Waffen-SS, sondern wegen seiner Machtnähe. STEFAN REINECKE