Feilen am Epitaph

Auch nach dem Labour-Parteitag zögert Tony Blair seinen Abschied noch weiter hinaus. Sein Finanzminister Gordon Brown bleibt derweil im Streit um die Nachfolge in Stellung

Blair hat sich noch viel vorgenommen. Zum Ende seiner Amtszeit will er den Nahost-Konflikt lösen

Es war der perfekte Abschied. Sieben Minuten stehende Ovationen bekam der britische Premier Tony Blair für seine Rede vor dem Labour-Parteitag am Dienstag in Manchester. Einige Delegierte weinten, fast wären auch Blair die Tränen gekommen. Dabei war es gar kein Abschied. Blair macht erst mal weiter, vermutlich bis nächsten Sommer.

Er hat sich noch viel vorgenommen. Die Queen wird in ihrer Rede im November ein 39- Punkte-Programm für Blairs Restherrschaft verlesen, das etwa Anti-Terror-Maßnahmen, Gesetze zur Immigration und Staatsbürgerschaft sowie eine Justizreform enthält. Höchste Priorität aber, so Blair, habe für ihn der Friede im Nahen Osten. Ist er noch zu retten? Ist ihm entfallen, was er mit seiner Politik in Afghanistan, im Irak und im Libanon angerichtet hat? Als Friedensbringer ist er in der Region jedenfalls unten durch. Am besten hält er sich von dort fern.

Blair wird die verbleibende Zeit wohl nutzen, um an seinem Epitaph zu feilen. Vorigen Dienstag, bei seiner Parteitagsrede, begann er bereits damit: Seht her, rief Blair, was ihr mir zu verdanken habt: Rekordausgaben für Bildung und Gesundheitswesen, die besten Schulexamen aller Zeiten, die Homosexuellenehe, die Teilunabhängigkeit für Schottland und Wales, den Mindestlohn, die Dezentralisierung der Macht, das längste Wirtschaftswachstum aller Zeiten.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Examen waren so leicht wie nie zuvor, die Macht in Großbritannien noch nie so auf den Premier konzentriert, der Mindestlohn noch immer unter sieben Pfund. Die öffentlichen Dienste sind trotz Finanzspritzen nicht besser geworden, die Teilunabhängigkeit von Schottland und Wales ist unausgegoren und ineffektiv. Und die Schere zwischen Armen und Reichen hat unter seiner Regierung groteske Ausmaße angenommen. Ein Angestellter in der Londoner City verdient heutzutage durchschnittlich 400 Mal so viel wie ein Rentner und 160 Mal so viel wie jemand auf Mindestlohn.

Bei seinem Antritt 1997 hatte Blair getönt, er wolle Großbritannien zum großartigsten Land der Welt machen. Doch stattdessen stellte er ein Heer von „Spin Doctors“ ein, jene ungewählten Berater, die Nachrichten einen regierungsfreundlichen Dreh geben. Diese Leute montierten Zahlen und Statistiken zu einem Päckchen zusammen, mit dem sie den Wählern vorgaukelten, dass Großbritannien ein besseres Land geworden sei.

Es dauerte lange, bis die Sache aufflog. Erst durch seine Lügen, mit denen er Parlament und Bevölkerung auf den Irakkrieg einstimmte, hat er das Vertrauen verspielt. Selbst am Dienstag noch versuchte er den Labour- Delegierten weiszumachen, dass sich die britischen Truppen im Irak mit „vollem UN-Mandat“ aufhalten. Den US-Präsidenten George W. Bush verschwieg er in seiner Rede vorsichtshalber wie einen peinlichen Verwandten. In Blairs Universum ist der Schein alles. Dabei gab es von Anfang an Gründe für Misstrauen: die Bestechung durch den Formel-1-König Bernie Ecclestone, dem er im Gegenzug die Tabakwerbung bei Autorennen gestattete, oder der Versuch, Sitze im Oberhaus zu verkaufen. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Wird unter Schatzkanzler Gordon Brown, dem designierten Nachfolger, alles besser? Für Brown spricht, dass Blair ihn hasst. Als der ihn am Dienstag als „bemerkenswerten Diener dieses Landes“ pries, klang es wie eine Gratifikation für einen treuen Butler. Das einzige Vermächtnis, das er sich wünsche, so Blair, sei ein erneuter Labour-Sieg bei den Wahlen in drei Jahren. Das nimmt ihm keiner ab. Man wird den Verdacht nicht los, dass er lieber Tory-Chef David Cameron als Nachfolger hätte.

Brown wiederum, der als vollkommen humorfrei gilt, ließ sich zum ersten Mal seit rund zehn Jahren öffentlich zu einem Lächeln hinreißen – als Blair Anfang des Monats gezwungenermaßen ankündigte, binnen Jahresfrist aus dem Amt zu scheiden. Dieses Lächeln wird Brown noch teuer zu stehen kommen, denn die Blair-Anhänger legten es ihm zurecht als Häme aus. Vielleicht stellen sie nun sogar einen Gegenkandidaten auf.

Die Nation verfolgt den Streit mit offenem Mund. Die beiden mächtigsten Männer im Land demontieren sich gegenseitig, und es geht dabei lediglich um persönliche Eitelkeiten. Mit Politik hat das nichts zu tun. Denn darin unterscheiden sie sich nicht. Beide gehören dem rechten Spektrum der Partei an, Brown steht vielleicht noch ein Stückchen weiter rechts.

Und er hat Blairs Politik stets mitgetragen, er hat in Sachen Irak genauso gelogen wie der Premierminister. Aber wo steht er bei anderen Themen? Browns Regierungserklärung am Montag, die offiziell natürlich keine war, steckte voller Allgemeinplätze. Lediglich in einem Punkt wurde er deutlich: Er wolle die Zentralregierung entmachten und den Bezirksverwaltungen größere Befugnisse einräumen. Aus Browns Mund klingt das, als ob der Papst die sexuelle Revolution ausruft. Brown ist ein noch größerer Kontrollfanatiker als Blair. Er hat 1997 das Labour-Wahlprogramm ad absurdum geführt und den Bezirksverwaltungen ihre wenigen Befugnisse sogar noch beschnitten. Vergangenen Monat verwarf er die Reform der Lokalverwaltungen.

Was also soll das Gerede von der Dezentralisierung? Brown ist genauso zynisch wie Blair. Seine Worte sind an die Labour-Ortsverbände gerichtet, die seit zehn Jahren Stück für Stück entmachtet wurden und dennoch immer wieder für die Mächtigen in London Klinken putzten. Im Mai sind sie in Schottland und Wales bei den Wahlen zum Regionalparlament wieder gefordert. Labour muss sich auf verheerende Niederlagen gefasst machen. Und das liegt nicht nur an Blair.

Für Brown spricht, dass Blair ihn hasst. Die Nation folgt dem Konflikt der beiden mit offenen Mund

Zwar hat Labour bei Umfragen den tiefsten Stand seit fast 20 Jahren erreicht, doch die Hoffnungen der Hinterbänkler mit wackligen Mehrheiten, ohne Blair bessere Wahlchancen zu haben, sind trügerisch. Die Umfragen besagen nämlich auch, dass Labour unter Brown gerade mal einen Prozentpunkt besser abschneiden und auf 33 Prozent kommen würde. Das Problem ist nicht durch den Austausch des Parteichefs zu lösen. Die Tories haben das in den vergangenen Jahren versucht und ihren Anführer alle Nase lang ausgewechselt. Sie kamen dennoch auf keinen grünen Zweig. Erst als sie aus ihrer Pleitenserie lernten und einen Blair-Klon – allerdings nach dem Blair-Vorbild von 1994 – wählten, überholten sie Labour in der Wählergunst. Blair monierte am Dienstag, dass David Camerons Tories glauben, es gehe nur ums Image. Ach?

Blair ist zwar noch im Amt, aber nicht mehr wirklich an der Macht. Den größten Dienst könnte er seiner Partei am kommenden Mittwoch erweisen: Wenn er an diesem Tag, an dem Cameron seine erste Rede als Tory-Chef auf dem Parteitag der Konservativen hält, seinen sofortigen Rücktritt erklärt, würde er ihm den Auftritt und die große Medienaufmerksamkeit vermasseln. Aber dafür ist er zu eitel. Die Rolling Stones treten ja auch nicht plötzlich ab. Und irgendwie sieht sich Blair immer noch als Rockstar der Politik.

RALF SOTSCHECK