: Leben in Widersprüchen
Literatur als elementare Ermutigung und tödliche Krankheit zugleich: Der Nobelpreisträger Imre Kertész‘ lässt an Radikalität nicht nach und ermittelt weiter in eigener Sache – das „Dossier K.“
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Es mag eine Binsenweisheit sein, aber selten trifft sie so zu auf das Werk eines Schriftstellers wie auf das des ungarischen Nobelpreisträgers Imre Kertész: Kunst und Leben, literarisches Schaffen und Autobiografie sind schlicht untrennbar. Und Kertész dreht diese Schraube weiter bis zur äußersten Anspannung, indem er mit jedem neuen Text ein weiteres Labyrinth aus Selbstverweisen, intertextuellen Anspielungen und Fiktion aufbaut, in dem der Autor sich, wenn nötig, bis zur Selbstunkenntlichkeit verstecken kann, um im nächsten Moment als unverstellte Person hervorzutreten.
„Eine Ermittlung“ heißt der Untertitel des nun erschienenen Buches; unschwer zu erraten, dass es sich dabei um eine Ermittlung in eigener Sache handelt. Schon im Vorwort gerät man umgehend wieder in jenes Grenzgebiet von Erfindung und Selbstauskunft, wenn Kertész den Entstehungsprozess erläutert: Die nun vorliegende, überarbeitete Fassung einer Reihe von Tonbandinterviews, die er, Kertész, in den Jahren 2003 und 2004 mit seinem ungarischen Lektor Zoltán Haffner geführt hat, sei „das einzige meiner Bücher, das ich eher auf äußere Veranlassung als aus innerem Antrieb geschrieben habe. (…) Folgt man jedoch dem Vorschlag Nietzsches, der den Roman von den Platonischen Dialogen herleitet, dann hat der Leser eigentlich einen Roman in der Hand.“ Eine Sackgasse also, wieder einmal, aber kein Irrweg. Nur der Hinweis, dass man nicht leichtfertig annehmen darf, es mit einem Interview zu tun zu haben, sondern sich hinter dieser scheinbar rein informierenden Gattung stets den Schriftsteller in Erinnerung zu rufen hat.
„Dossier K.“ ist kein leichtes und kein leicht zu lesendes Buch (was durchaus für seinen Autor spricht, der auch nach dem Nobelpreis 2002 in seiner bohrenden Radikalität nicht nachgelassen hat; wahrscheinlich deshalb, weil er es gar nicht könnte). Der Zentralbegriff der Schicksallosigkeit im Kertész’schen Sinne, jenes mit dem historischen Nullpunkt Auschwitz-Birkenau und dem zufälligen Überleben dieser eigentlich auf perfektioniertes Töten hin ausgerichteten Maschinerie einsetzende Fiasko, das in diesem Fall dazu geführt hat, dass ein Mann sich nahezu vierzig Jahre lang in die innere Emigration einer Budapester Einzimmerwohnung begeben hat, wird vorausgesetzt. Und doch zieht man aus dem stellenweise sogar in recht launigem Tonfall gehaltenen Zwiegespräch poetologische Erkenntnis in Bezug auf Kertész’ Schreiben, dessen einziger Gravitationspunkt der Holocaust ist und die dauerhafte Ambivalenz des Überlebens zwischen Schuld und, ja, Heiterkeit.
Aber was heißt Holocaust? Griechisch holókaustos – „ganz verbrannt“. „Was mich betrifft, ich benutze das Wort, weil es unvermeidbar geworden ist, aber ich halte es für einen Euphemismus, eine feige und phantasielose Art, sich die Sache leichter zu machen“, schreibt Kertész. Weil es die Überlebenden vergesse und ignoriere, was es bedeutet, weiterzuleben, weiterleben zu müssen. Diese Frage ist von existentieller Wucht, weil sie im Grunde letztendlich die einzige ist, die Kertész auch in seinen Romanen aufwirft: „Vielleicht ist es die große Frage unserer Zeit. Die Menschen blicken nun verstohlen in den Abgrund – der nicht vor, sondern hinter ihnen klafft. Und dieser Abgrund ist ihr Leben.“ Auch rückwirkend, in der Erinnerung, wird diesem Mechanismus alles unterworfen, was in „Dossier K.“ zur Sprache kommt – die Kindheit, die Familiengeschichte, der von der Mutter verlassene Vater, der danach das Herz des Jungen gewinnt, nicht aber dessen Verstand und über den es in „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ heißt, die Worte „Vater“ und „Auschwitz“ erzeugten das gleiche Echo. Aber dabei handelt es sich schließlich um einen Roman, also um Fiktion. Und nur dort, so schreibt Kertész, könne er sich selbst vergessen, sich eine zweite Haut überstreifen, die der lebenserhaltenden Erfindung und Neuerzeugung einer parallelen Wirklichkeit.
Aber wie überhaupt kommt man zum Schreiben, zur Literatur? Zwangsneurose, sagt der Schriftsteller, „unabweisbarer innerer Befehl“. Der Mann, der da, wie im Beginn des Romans „Fiasko“, in seiner winzigen Wohnung vor dem Sekretär steht und denkt (und weil er viel Kummer und viele Sorgen hat, hat er viel zu denken) – dieser Mann arbeitet nicht an einem Werk, weil in diesem Begriff der Gedanke eines Plans enthalten wäre. Nein, er schreibt aus existentieller Angst Blätter voll, Tag für Tag, vierzig Jahre lang. Von irgendetwas muss er leben, also arbeitet er als Journalist oder schreibt Komödien für Boulevardtheater, damit stärkt er natürlich mittelbar das Regime, das ihn quält, aber wenigstens verdient er damit das Geld, um weiter innerhalb dieses Regimes sein Dasein zu fristen, ein paradoxes Dasein mithin. Seine Lektüreerfahrungen bezeichnet Kertész als tödliche Anschläge – Thomas Manns „Tod in Venedig“, Camus’ „Der Fremde“, Kafka natürlich. Literatur, das ist „bodenloser Umsturz, elementarer Mut und Ermutigung und gleichzeitig so etwas wie eine tödliche Krankheit“.
Imre Kertész ist kein Moralist, schon gar nicht im Sinne einer expliziten Moral. Adornos Diktum, es sei barbarisch, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, ist für ihn nicht mehr als eine „moralische Stinkbombe, die die ohnehin schlechte Luft überflüssigerweise noch mehr verpestet“. Der Satz wird mit der Kertész eigenen scharfen Logik ad absurdum geführt, dass Celan kein Barbar sei und darüber hinaus niemand von diesem hätte erwarten können, schlechte Gedichte zu schreiben. Treffer. „Ich sehe überall Widersprüche. Aber ich liebe Widersprüche.“ So lauten die letzten Sätze von „Dossier K.“ Imre Kertész’ spannende, wenn auch durchaus nicht immer von Eitelkeiten freie Ermittlung lebt nicht von, sondern in diesen ewigen Widersprüchen: Mutter und Vater. Diktatur und vermeintliche Freiheit. Gott und Auschwitz. Komödie und Tragödie. Leben und Tod.
Imre Kertész: „Dossier K. Eine Ermittlung“. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006, 240 Seiten, 19,90 Euro