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Archiv-Artikel

„Gespenster nicht gefragt“

Jungen werden in der Schule benachteiligt. Zum Beispiel im Diktat, sagt die Grundschulpädagogin Astrid Kaiser

taz: Frau Kaiser, warum haben wir die Bedürfnisse von Jungen an der Schule so lange übersehen?

Astrid Kaiser: Die Geschlechtererziehung wurde von Frauen entdeckt. Sie haben die Ungleichheit von Frauen und Männern in der Erziehung zum Thema der Pädagogik gemacht. Deshalb standen die Mädchen im Vordergrund. Doch allmählich wird klar, wie sehr wir Jungen in der Schule benachteiligen.

Inwiefern?

Beispiel Rechtschreibung in der Grundschule. Jungen können andere Wörter gut schreiben als Mädchen. Fußball, Gespenst, Computer. Wörter eben, die Jungen emotional nahe sind. Doch dieser Wortschatz kommt in der Leistungsbewertung der Grundschulen gar nicht vor. Stattdessen müssen die Kinder im Diktat süßliche Gedichte schreiben. Rund um Sonne und Wiesen. Texte, die Mädchen entsprechen. Bei Diktaten über böse Gespenster, die durch die Burg sausen, hätten Jungen bessere Noten. So aber tragen sie auch noch das Image mit sich herum, sie seien sprachlich unterlegen. Auch die Bewegungsbedürfnisse von Jungen ignoriert die Schule. Nur wer artig ruhig sitzt, wird anerkannt. Das widerspricht Jungs noch viel mehr als Mädchen.

Sie sind bereits in den 80ern auf die Unterschiede der Geschlechter bei den Kleinen aufmerksam geworden.

Als ich 1983 eine Untersuchung über Lernvoraussetzungen für den Sachunterricht machte, stieß ich auf ein frappierendes Phänomen. Die Auswertung der Aufgaben ergab: Jungen und Mädchen haben bereits in der ersten Klasse ganz unterschiedliche Weltbilder im Kopf.

Zum Beispiel?

Die Kinder sollten eine Fabrik von innen malen. Die Mädchen zeichneten Menschen bei harter Arbeit, sie zeigten, wie es ihnen dabei ging. Die Jungs malten eine Halle voller Maschinen. Oder: Die Kinder sollten ein Frühstück vorbereiten. Die Mädchen suchten nach gesunden Lebensmitteln und dekorierten alles. Die Jungs servierten Brathähnchen und organisierten einen neuen Toaster. Oder: Die Mädchen ließen sich unkritisch von den Werbesprüchen von gesunder Nuss-Nougat-Creme einlullen. Die Jungs lachten: „Das sagen die Werber doch nur.“ Uns wurde klar: Jedes Geschlecht hat bestimmte Kompetenzen und Wahrnehmungen, die von ihrem geschlechtsspezifischen Erfahrungshorizont bestimmt werden. Das müssen wir aufbrechen.

Also in die Tonne mit der Koedukation und in getrenntem Unterricht neue Erfahrungsräume schaffen?

Unsinn. Wir tun weder Jungs noch Mädchen einen Gefallen, wenn wir sie pampern und in einem Schonraum aufwachsen lassen. Die Anforderungen, etwas zu lernen, müssen der Realität entsprechen. Jungen und Mädchen brauchen die Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht. Auch Mädchen- und Jungenstunden sollten daher nur einmal die Woche stattfinden.

Bringt uns die reflexive Koedukation weiter?

Das kommt darauf an, wie man das versteht. Ich halte das manchmal für völligen Quatsch, zumindest soweit es nur ums gemeinsame Schwätzen mit Jungs und Mädchen geht, wie so oft. Das überfordert die Kinder, gerade wo es so viele mit Sprachschwierigkeiten gibt.

Wie sollte eine Pädagogik aussehen, die auch die Jungs in den Blick nimmt?

Handeln statt reden. Die Lehrer reflektieren was Mädchen und Jungen können und was nicht und bieten jedem Geschlecht die Erfahrungen an, die ihm fehlt. Jungen lernen zärtlich zu sein, Mädchen auch mal laut. Oder: Jungen übernehmen für Tiere oder Pflanzen in der Klasse Verantwortung und pflegen sie. Ich halte eine kompensatorische Erziehung für sinnvoll. In unserem Modellversuch zur geschlechterbewussten Pädagogik in Niedersachen hat sie sich bewährt. Erfahrungslernen ist das effektivste Lernen. Wir müssen die alten Geschlechtererfahrungen mit neuen überschreiben.

Der Begriff Jungspädagogik geht also am Kern vorbei?

Ja, denn wir müssen beides zusammendenken. Es geht um eine geschlechtergerechte Pädagogik.

Sind die Lehrer vorbereitet?

Leider nehmen sie immer noch viel zu wenig wahr, wie unterschiedlich Jungen und Mädchen ticken. Ich habe das gerade wieder in einem Schulpraktikum über regenerative Energien erlebt. Es gab nur schlechtes Unterrichtsmaterial. Die Jungs schraubten und probierten damit herum, bis sie den Versuch hinbekamen. Die Mädchen gaben schnell auf und fragten die Lehrerin. Wir müssen solche Unterschiede von Jungs und Mädchen erkennen lernen. Dafür sollten wir auch unsere eigenen Muster überprüfen.

INTERVIEW: ANJA DILK