: Ein Stadtplan ohne Müllhalden ist sinnlos
Die Ausstellung „Impossible India“ im Frankfurter Kunstverein befasst sich mit den urbanen Strukturen, die sich in Indiens Metropolen gebildet haben
von URSULA WÖLL
„Shanghai Tales“ nennt Sharmila Samant ihren Film, obwohl er im indischen Mumbai spielt. Weil die Megacity mit Singapore und Schanghai konkurriert, zerstörte sie 2004 einen riesigen Slum, um wertvolles Bauland für Hochhäuser zu gewinnen. Als Bagger unter Polizeischutz die Hütten von 90.000 Familien plattmachten, war die Künstlerin mit der Kamera vor Ort. Sie filmte auch die Massenproteste auf dem Maidan-Platz, die am 15. August, dem Jahrestag der indischen Unabhängigkeit, stattfanden.
Über 100.000 der obdachlos gemachten Bewohner waren Kinder, deshalb ließ Sharmila Samant das Geschehen durch ein Kind aus dem Off kommentieren. Um das Trauma der Vertriebenen zu visualisieren, schnitt sie irreale Sequenzen zwischen die Dokumentaraufnahmen. Ihr Film ist nun im Frankfurter Kunstverein in der Ausstellung „Impossible India“ zu sehen, die den Blick auf die unmöglichen urbanen Strukturen, auf die Schattenseiten des farbenprächtigen Indien lenkt. Und doch wirkt die Schau nicht deprimierend, weil sie eine Kunstszene vorstellt, die sich voller Optimismus einmischt. Viele der Arbeiten sind im Kontext sozial engagierter Gruppen entstanden.
Sharmila Samant schloss ihr Kunststudium 1989 in Mumbai ab, stellte auf dem World Social Forum und international aus und ist im „Open Circle“ aktiv. Für dessen „School on Wheels“ erfand sie einen Schulranzen aus Nylon mit verstärktem Rücken und vier ausziehbaren Leichtmetall-Beinen, der den Slum-Kindern auch als Tisch dienen kann. Wie kam sie auf die Idee des seltsamen Gebildes? Sie lacht: „I have studied Sculpture.“
Auf Einladung der Kuratorin Nina Möntmann hat sie die „School on Wheels“ in Frankfurt als Rauminstallation nachempfunden. Die blauen Ranzen existieren nur in 40 Exemplaren, obwohl es allein in Mumbai über 3,5 Millionen Slum-Bewohner gibt. Sie haben eher eine symbolische Funktion und sollen die Kinder anregen, ihre Lernbedingungen aktiv zu gestalten, Debatten in den Elendsvierteln in Gang setzen und Selbstbewusstsein wecken. Es beeindruckt, wie sehr die ausstellenden Künstler auf die Kraft der Fantasie bauen und angesichts der Probleme nicht resignieren oder eine unverbindliche Ästhetik wählen.
Das enorme Wachstum der indischen Wirtschaft nützt nämlich den Armen nichts, im Gegenteil nimmt die Landflucht noch zu und verschärft die urbanen Gegensätze. Wie erfindungsreich die Marginalisierten ihr Leben meistern, zeigt der 1973 geborene Gigi Scaria, der Malerei in New Delhi studierte und dort als Lehrer arbeitete, bis ihn seine Kunst ernähren konnte. Er filmte zwei Jugendliche bei ihren nächtlichen Ausflügen auf die Müllberge der Hauptstadt. Soheil und Maryan türmen die brauchbar scheinenden Abfälle mit großer Routine auf ihre klapprigen Fahrräder und sortieren sie in ihrem Unterschlupf. Mit behutsam inszenierten Szenen unterstreicht Scaria ihre ausgegrenzte Existenz. So finden die beiden einen Stadtplan im Abfall eines Hotels, der jedoch für sie wertlos ist, denn „in ihm sind keine Müllplätze eingezeichnet“.
Die 24-jährige Lehrerin Neelam Ayare wiederum hat in ihren Fotoserien das Leben der Straßenbau-Arbeiterinnen in Mumbai festgehalten, die, das kann man einem Begleitheft entnehmen, gerade einmal 100 Rupien am Tag verdienen (zum Vergleich: ein Touristenmittagessen kostet 140 Rupien). Wichtig scheint der Fotografin auch die Sensibilisierung für die geschlechtsspezifische Körpersprache. Man sieht etwa eine Arbeiterin im roten Sari auf einem Sandberg vor zwei Stahlröhren sitzen und neben ihr einen Mann in hellen Hosen, vielleicht der Aufseher. Die Frau hält die Kniee geschlossen und die Hände auf ihnen gefaltet, der Mann dagegen die Beine gespreizt und die Arme neben dem Körper.
Wie die Straßenbau-Arbeiterinnen kommen täglich Straßenkehrer, Hausangestellte oder Wachleute aus ihren Slums ohne Infrastruktur in die ansehnlichen Viertel, um diese am Funktionieren zu halten. Die Mittelschicht nimmt sie als billige Arbeitstiere und nicht als gleichberechtigte Mitbewohner ihrer Stadt wahr. Die Ausstellung „Impossible India“ erinnert daran, dass deren wohlhabende und arme Hälfte zusammengehören. Sie reproduzieren sich wechselseitig, weil die Gelder in die prosperierenden Sektoren und nicht in die Slums oder die ländlichen Bereiche fließen.
„Impossible India – Parallele Ökonomien und zeitgenössische Kunstproduktion“, bis 19. 11., Frankfurter Kunstverein, www.fkv.de