: „Brasilien bedeutet Mix“
Ein Gespräch mit der brasilianischen Sängerin Marisa Monte über Brasilien, das gelobte Land der Moderne, die Kunst, den richtigen Umweg zu gehen, und Anthropologen, die im Kochtopf landeten
INTERVIEW MAX DAX
taz: Marisa Monte, Sie gelten als Hoffnungsträgerin der brasilianischen Musik, weil Sie darauf verzichten, den Samba endlos zu variieren. Sie gehen weiter und verknüpfen mit Ihrer Musik zugleich das Rollenmodell der unabhängigen, karrierebewussten Künstlerin.
Marisa Monte: Es geht dabei gar nicht so sehr um die Karriere als solche. Ich muss wie jeder andere Musiker auch ein Leben behaupten – in welchem meine Karriere ein wichtiger, tagtäglicher Aspekt ist. Aber wichtiger ist es für mich, glücklich zu sein, stolz sein zu können auf das bisher Erreichte. Ich möchte eine gute Künstlerin sein, aber ich möchte auch eine gute Mutter sein. Ich würde lieber mehr im Studio arbeiten und jeden Abend nach Hause kommen, als monatelang durch Konzertsäle zu tingeln.
Sie sind heute 38 Jahre alt, und Sie haben mehrere Millionen Platten verkauft. Aber warum haben Sie mit 19 reihenweise Angebote von Plattenfirmen ausgeschlagen, die Sie unter Vertrag nehmen wollten?
Weil der kommerzielle Erfolg nur ein Aspekt einer Karriere ist. Ich bin viel mehr auf meinen künstlerischen Werdegang fixiert. Ich muss meinen Weg konsequent gehen – und alles, was sich aus dieser Konsequenz ergibt, akzeptiere ich. Nur so kann eine Karriere natürlich verlaufen. Das englische Wort „success“ kommt von dem Wort „sukzessiv“, und das wiederum bedeutet: Ein Schritt wird nach dem anderen getan. Alle Schritte bauen aufeinander auf.
Wie definieren Sie Erfolg für sich?
Künstlerisch unabhängig zu sein. Meine Musik veröffentlichen zu können. Das ist der Erfolg, nach dem ich strebe. Ich bin davon angetrieben, dass ich meine konzeptuellen Ideen umsetzen kann. Ob sich etwas dann verkauft oder nicht, liegt nicht in meiner Macht. Jede neue Platte, die ich veröffentliche, verkauft längst weit mehr als eine halbe Millionen Einheiten. Ich kann mich über einen solchen Erfolg freuen, weil ich hinter meiner Musik stehe. Ich kann den Erfolg als Anerkennung annehmen und muss mich für nichts schämen. Die Musik muss den ganzen Respekt des Künstlers erfahren. Ein Musiker, der versucht Musik zu manipulieren, wird in eine Falle tappen. Viele berühmte Musiker sind sehr unglücklich, weil sie tagtäglich ein Leben leben, das sie nicht mögen, weil sie eine fremde Rolle spielen müssen. Ich bin eine Dienerin meiner Musik. Ich respektiere die Musik. Ich bin glücklich.
Wie konnten Sie das aber bereits im Alter von 19 Jahren wissen?
Ich wollte mit 14 Opernsängerin werden und habe fünf Jahre lang Oper studiert, bin dafür sogar für ein Jahr nach Italien gezogen. Ich habe dann allerdings mit 19 das Studium geschmissen, weil ich zu diesem Zeitpunkt begriffen hatte, dass ich mich in diesem Beruf nie würde ausdrücken können. Zumindest nicht, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich hätte keine eigene Musik mehr machen können. Ich hätte meine Kultur und meine Vorlieben hinter mir lassen müssen. Ich liebe die Oper, verstehen Sie mich nicht falsch.
Aber Opern zu singen bedeutet auch, eine veraltete Gesangstechnik zu praktizieren, die aus einer Zeit stammt, in der es noch keine Mikrofone gab. Als Opernsänger hatte man vor einem Publikum kraft der eigenen Stimme zu bestehen. Das Mikrofon eröffnet der Stimme ganz andere Ausdrucksmöglichkeiten, um Nähe zu erzeugen. Hinzu kommt, dass ich nur noch traditionelles Repertoire singen hätte können, das vor hunderten von Jahren komponiert worden ist. Ich aber liebe die Zeit, in der wir leben, mit all ihren Möglichkeiten. Und für Musiker bedeuten die Möglichkeiten heutzutage nun einmal das Paradies! Als ich mit 19 aus Italien zurück nach Brasilien kehrte, machte ich weiter, wo ich aufgehört hatte: ich sang in den Nachtclubs von Rio. Während meine Freunde studierten, hatte ich ernste Karriereentscheidungen zu treffen.
Die vielleicht bedeutendste Entscheidung war, für Ihre ersten vier Alben mit dem New Yorker Produzenten Arto Lindsay zusammen zu arbeiten.
Artos Einfluss kann man nicht hoch genug einschätzen. Ich vertraue ihm als Ästheten. Ich liebe ihn als künstlerische Referenz. Er hat mich immer informiert. Die meisten Musiker, die mir bei meinen Platten geholfen haben, habe ich durch ihn kennengelernt. Er ist ja nicht nur an Musik interessiert, sondern auch an Fotografie, bildender Kunst, Filmen und Literatur. Es ist besser, wenn man Musik mit jemandem macht, dessen Horizont weiter reicht als bloß zur nächsten Jukebox.
Ist es von Vorteil, dass Arto Lindsay in New York lebt, während Sie in Rio wohnen?
Ein immenser Vorteil – auch wenn wir uns aufgrund der räumlichen Distanz nur selten sehen können. Für mich ist der Dialog zwischen den verschiedenen Welten und deren Ansätzen sehr wichtig. Wie wird in Amerika Musik gemacht? Wie in Brasilien? Dazu ist es wichtig, mit jemandem wie Arto, aber auch all den anderen Musikern Kontakt zu halten.
Von welchen Musikern sprechen Sie?
Jacques Morelenbaum, Ryuichi Sakamoto, Philip Glass, Laurie Anderson, John Zorn, Marc Ribbott, David Byrne, Vernon Reed – all diese Leute habe ich durch Arto kennengelernt.
Sie alle werden der Avantgarde-Musik zugeordnet.
Die brasilianische Musik schwankt zwischen zwei Polen: einerseits der Karneval und die Samba. Andererseits die Suche nach einer neuen Ästhetik. Wir versuchen unsere eigene Sprache in der Musik zu finden, unseren eigenen Stil.
Sie selbst haben immer wieder hervorgehoben, dass Ihre Musik, aber auch die brasilianische Musik im Allgemeinen, das Resultat einer Verschmelzung sei.
Der Mix ist ein wesentlicher Teil der brasilianischen Kultur. Das liegt vor allem daran, dass sich die Bevölkerung Brasiliens aus unterschiedlichen Rassen zusammensetzt – und jede Rasse wiederum beruft sich auf ihr eigenes kulturelles Erbe. Die Verschmelzung der Kulturen ist in meinen Augen etwas Natürliches und nichts, vor dem man Angst zu haben braucht. Wir reden hier über die Kultur eines der größten Länder der Welt und über einen bewussten Umgang mit kulturellen Wurzeln. Statt in Ghettos nebeneinander zu leben, vermischen wir unsere Informationen zu einer neuen DNA. Das ist der Grund, weshalb in Brasilien so viele neue Stile entstehen.
„Brasilien“, so sagt Lindsay, sei „die wahre Idee vom Westen, eine Idee der Moderne“.
Dem stimme ich zu. Brasilien ist ein Versprechen. Ich denke, dass die Welt viel von uns lernen könnte. Brasilien ist nach wie vor ein sehr junges Land, das noch für viele Probleme Lösungen finden muss. Aber für einige Probleme haben wir bereits Lösungen gefunden.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Harmonie im Zusammenleben der Kulturen erlebe ich sonst nirgendwo so fruchtbar wie in Brasilien. Der Wille, Dinge neu zu gestalten, statt sich nur in Traditionspflege zu ergehen. Wissen Sie, dass die Ureinwohner Brasiliens, die Indianer, Menschen zu essen pflegten?
Das nennen Sie einen Vorzug?!
Sie haben diese Angewohnheit ja überwunden. Das zeugt von Lernfähigkeit. Aber als sie noch Menschen gefressen haben, das haben zumindest die Anthropologen herausgefunden, waren sie sehr wählerisch bei ihren Mahlzeiten.
Nur gutes, abgehangenes Muskelfleisch?
Eben nicht. Nur intelligente Menschen. Stammesanführer. Charismatische, herausragende Persönlichkeiten. Die diesem Ritual zugrunde liegende Idee scheint gewesen zu sein, dass man annahm, die Fähigkeiten der Verspeisten würden auf den Speisenden übergehen. Du bist, was du isst – gewissermaßen. Auf dem Speisezettel landete nur, wer sich zu Lebzeiten als außergewöhnlich erwiesen hatte.
Und das erklärt Ihrer Ansicht nach, weshalb der Brasilianer an sich neuen kulturellen Entwicklungen gegenüber offen ist?!
Das sagen die Anthropologen, die Brasilien bereist haben und nicht selten selber im Topf landeten.
Das ist faszinierend. Aber auch ein bisschen gruselig.
Beruhigen Sie sich. Das war vor 500 Jahren. Heute fressen wir nur die Ideen anderer Menschen. Und ich denke, das ist etwas Positives: Wir Brasilianer, auf alle Fälle wir Künstler, haben dabei nicht die Angst, dass wir unsere Identität dabei verlieren könnten. Im Gegenteil: Wir bestätigen uns, indem wir so handeln. Wir konsumieren andere Kulturen, also sind wir. Schauen Sie auf die Bossa Nova: eine Mischung aus Samba und Jazz. Neue Informationen werden nicht als etwas Bedrohliches angesehen, sondern als Energieträger.
Ist das auch Ihre Arbeitsweise? Auf Ihrem neuen Album „Infinito particolar“ haben Sie sich durch ein Jahrzehnt eigener Demo-Aufnahmen gewühlt und sie in neuer Form aufgenommen.
„Infinito particolar“ ist ein Album, das auf alten Kompositionen von mir und Carlinhos Brown basiert. Ich habe diese Demoaufnahmen dann verschiedenen Arrangeuren gegeben – mit der Ansage, dass ich mir eine bestimmte Instrumentierung wünsche, so dass das Album am Ende wie aus einem Guss erscheinen würde. Auf diese Weise erhoffte ich mir, eine kohärente Stimmung zu erzeugen. Ich höre diesen Liedern dann zu und versuche herauszuhören, was sie von mir brauchen, um in der Welt bestehen zu können. All die Arrangements und die an der Entstehung beteiligten Musiker – sie haben den Songs zu dienen. Ich übrigens auch. Mir ging es darum, einen eigenen Weg zu finden, wie man Songs in Brasilien schreiben kann – einen Weg, den kein anderer geht.
Was ist dieser andere Weg? Sie haben zeitgleich ein zweites Album mit dem Titel „Universo ao meu redor“ veröffentlicht – ein Samba-Album.
Mein Weg ist der eines Dialoges. Ich respektiere und ehre die Tradition der Sambamusik. Mein Vater war Leiter einer Sambaschule in Rio. Zugleich ist mir jede Form von Nostalgie zuwider. Ich möchte jetztzeitig sein. Das ist etwas, worin mich Arto Lindsay sehr bestärkt hat. Und ich bin nicht die einzige: Die Sängerin Cibelle, sie lebt im Exil in London, geht diesen Weg auch. Den Umweg.