: Die Zeit, um wegzufliegen
Derzeit erreicht der Vogelzug seinen Höhepunkt. Aber immer mehr Zugvögel reisen nicht in Richtung Afrika. Wegen des milden Klimas bleiben sie in Europa – fatal für sie, wenn die Winter frostig werden
VON TORSTEN GELLNER
Die Mönchsgrasmücke hat umdisponiert. Jahr für Jahr verließ sie um diese Zeit Berlins Hinterhöfe und Parks in Richtung Süden, wo sich bei angenehmen Temperaturen prächtig überwintern ließ. Doch seit kurzem sparen sich immer mehr dieser kleinen Singvögel, deren Männchen eine putzige Mönchskappe tragen, die lange Reise und steuern stattdessen das viel nähere Südengland an. Auch der Kranich, der gerade in Brandenburg Station macht, um dann weiter ins Warme zu ziehen, nimmt immer häufiger mit weniger entlegenen Winterquartieren vorlieb. Eigentlich ein notorischer Spanienurlauber, verbringt der Zugvogel den Winter immer öfter lieber gleich bei uns.
Der Vogelzug erreicht wie jedes Jahr derzeit seinen Höhepunkt. Und er befindet sich im Wandel. „Wir beobachten seit einigen Jahren deutliche Veränderungen“, sagt Jens Scharon, Ornithologe beim Berliner Naturschutzbund Nabu. „Vögel, die eigentlich tausende Kilometer in den Süden fliegen, lassen sich in England nieder oder bleiben sogar in Deutschland.“ Ein Grund dafür ist nach Meinung der Experten der Klimawandel.
„Vögel sind Opportunisten“, erklärt Derk Ehlert, Wildtierbeauftragter des Senats und passionierter Vogelkundler. „Wie wir Menschen suchen sie den Weg des geringsten Widerstands.“ Warum also in die Ferne schweifen, wenn milde Winter auch in unseren Breiten gute Nahrungsbedingungen bieten. „Kraniche versuchen tatsächlich, vermehrt in der Nähe zu bleiben“, sagt Ehlert. Wird der Winter aber schneereich und kalt, haben die Vögel Pech. „Diejenigen Populationen überleben, die echte Zugvögel sind und in die Wärme geflogen sind.“
Heuer haben der warme Spätsommer und Herbst den Vogelzug etwas durcheinander gebracht. „Wenn es warm ist und die Vögel noch genug zu fressen finden, ziehen sie etwas später los“, sagt Derk Ehlert. „In diesem Jahr etwa ist der große Vogelzug um einige Tage, wenn nicht gar Wochen verspätet losgegangen.“ Der heiße Sommer könnte aber auch schuld dran sein, dass die derzeit in Brandenburg rastenden Kraniche nicht so lange bleiben wie üblich. „Eine Nahrungsgrundlage für die Kraniche ist der Mais. Der ist aber in diesem Jahr früher oder gar nicht abgeerntet worden“, sagt Ehlert. „Das Futter könnte also knapp werden, die Vögel kürzer blieben.“
Berlins aufmerksame Vogelfreunde dürften die bis zuletzt milden Temperaturen ganz besonders glücklich gestimmt haben. „Berlin hat sich im September so aufgeheizt, dass vermehrt Greifvögel über die Stadt ziehen“, sagt Vogelkenner Ehlert. So konnte man unlängst etwa seltene Seeadler beobachten, die sonst nur über großen Seen ihre Kreise ziehen. Weitaus weniger exotisch sind die nordischen Gänsearten wie Bless- oder Saatgänse, die gerade zu tausenden über die Stadt fliegen. „Die sind auch für den Laien an ihrer typischen V-Formation erkennbar“, sagt Jens Scharon. Eindrucksvoll sind auch die Starentrupps, die in städtischen Parkanlagen ihre Schlafplätze haben. „Da nehmen schon mal bis zu 6.000 davon auf einer Hochspannungsleitung Platz“, sagt Scharon.
Auch wenn man es nicht glauben mag – der städtische Krähenbestand hat nach Beobachtungen der Ornithologen in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. Wichtige Nahrungsquellen wurden den Tieren genommen. „Die Krähenschwärme sind früher zu den Müllhalden am Stadtrand geflogen“, sagt Jens Scharon. „Mit der Schließung der Halden mussten sich die Tiere nach anderen Fressplätzen umschauen. Wo sie jetzt hin sind, wissen wir leider nicht.“